Gesetz ist Gesetz, Papier ist geduldig

Da die Organisation Acovicruz, bei der ich tätig bin, im politischen Bereich tätig ist (mehr dazu), besteht meine Einarbeitungsphase unter anderem darin, mich mit der Gesetzeslage bekannt zu machen. Seit einer guten Woche lese ich mich also quer durch die bolivianische Verfassung, das «Gesetz über Partizipation und Soziale Kontrolle» und das «Rahmengesetz über Autonomie und Dezentralisation».

Einige meiner Lieblingsartikel der bolivianischen Verfassung:
Alle Menschen, insbesondere die Frauen, haben das Recht auf physische, sexuelle und psychische Gewaltfreiheit, sowohl in der Familie als auch in der Gesellschaft. (Art. 15)

Wer die Regelungen der Verfassung bezüglich der natürlichen Ressourcen übertritt, begeht eine Straftat des Vaterlandsverrats. Diese Straftat wird mit der Höchststrafe geahndet. (Art. 124.2)

Für die Ausübung öffentlicher Ämter sind folgende Voraussetzungen erforderlich: (…) Beherrschen von mindestens zwei Amtssprachen des Landes. (Art. 234.7)
(Wobei die Amtssprachen nebst Spanisch alles indigene Sprachen sind; Anmerkung)

Das bolivianische Wirtschaftsmodell ist pluralistisch, es ist auf eine Verbesserung der Lebensqualität und das «Vivir Bien» («gut leben») aller Bolivianer/innen ausgerichtet. (Art. 306)


Damit werden vier Themen angeschnitten, die zentral sind im Selbstverständnis der bolivianischen Politik seit der Wahl des amtierenden Präsidenten Evo Morales 2006: Gewaltfreiheit und Frieden, Umweltschutz, Anerkennung und Integration der indigenen Völker, Dekolonisation und Einbindung «alternativer» – nicht-westlicher – Grundprinzipien.

Klingt gut, oder? Die Realität sieht leider anders aus: Die Gesetze sind eine Sache, ihre Anwendung aber eine ganz andere. Ich habe in den vergangenen Wochen bereits die verschiedensten Geschichten zu diesem Auseinanderklaffen von Theorie und Praxis gehört:

Es gibt zum Beispiel ein Gesetz, das unter bestimmten Bedingungen Abtreibungen erlaubt. Doch einen Arzt oder ein Krankenhaus zu finden, das eine solche durchführt, ist praktisch unmöglich. Deshalb sind illegale Abtreibungen immer noch an der Tagesordnung. Es kursieren Geschichten über Zahnarztpraxen in El Alto, in deren Hinterzimmern Abtreibungen durchgeführt werden, heimlich, schnell und unprofessionell. Immer wieder sterben die Mütter in der Folge an Infektionen oder Blutungen. Ebenfalls kursieren allerdings Geschichten über eine Gruppe von Leuten, die man notfallmässig anrufen kann, wenn man mit einem Arzt konfrontiert ist, der sich weigert. «Sie gehen dorthin, halten dem Arzt das Gesetz unter die Nase und zwingen ihn an Ort und Stelle, dieses zu respektieren und die Abtreibung durchzuführen.» Doch wenn solch drastische Massnahmen nötig sind, um sich Recht zu verschaffen, ist es offensichtlich, dass der Grossteil der Bevölkerung nicht davon profitieren kann.

Ähnlich sieht es offenbar beim Thema «Partizipation und Soziale Kontrolle» aus: Es besteht zwar ein Gesetz, das die Rechte der Zivilbevölkerung auf politische Mitwirkung im Detail festlegt und auch klar definiert, dass Behörden sowie Unternehmen, die über öffentliche Gelder verfügen oder im Service Public tätig sind, ihre Finanzen und Jahresplanungen offenlegen müssen, doch dies geschieht nur in den seltensten Fällen. Obwohl das Gesetz beispielsweise eine Frist von zwei Wochen festschreibt, die den Komitees der «Sozialen Kontrolle» – von der Zivilgesellschaft gewählte Vertreter jeder Gemeinde – eingeräumt werden muss, um die Unterlagen zu studieren und gegebenenfalls Einsprache erheben zu können, wenn Verdacht auf Missbrauch von öffentlichen Geldern, Korruption o.ä. besteht, erhalten sie die Dokumente oft erst einen oder zwei Tage vor der Einsprachefrist – oder gar nicht.

Was den Umweltschutz betrifft, ist die Verfassung ebenfalls voll von entsprechenden Verpflichtungen. Evo Morales als erster indigener Präsident war in den Schweizer Medien meist mit Meldungen präsent, die seinen Einsatz für die indigenen Völker und den Umweltschutz betonten. Vor Ort sieht auch dies leider ein bisschen anders aus. Seine Kritiker/innen fügen zum Beispiel an, dass seine Rede von der Verteidigung der Rechte der Mutter Erde nur leere Worte seien: «Seine Politik in Hinblick auf den Abbau von natürlichen Ressourcenhat dazu geführt, dass er sich von seiner ursprünglichen politischen Agenda entfernt hat. Die grossen Projekte seiner zwei letzten Amtszeiten bestanden nämlich in infrastrukturellen Megaprojekten wie der Fernstrasse durch das Naturschutzgebiet TIPNIS, die Staudammprojekte von Bala und Chepete sowie der Erkundung von Naturschutzgebieten und indigenen Territorien mit der anschliessenden Bewilligung, dort fossile Brennstoffe zu fördern.» (ganzes Interview aus dem WENDEKREIS lesen)

Die laufende Amtszeit von Evo Morales endet 2019, dann wird er 13 Jahre an der Macht gewesen sein. Die heute noch gültige Verfassung schreibt ein Maximum von 10 Jahren vor. Wahlpropaganda für und gegen ihn läuft bereits, und Santa Cruz ist eine der Hochburgen der Opposition. Zu diesem Thema wird es also noch einiges zu schreiben geben…

 

5 Kommentare

  1. […] anderseits aber auch von einem kleinen, sagen wir mal alternativen Kreis von Kritiker_innen (siehe auch Beitrag vom 9. Februar). Miguel Angel Crespo, Direktor von Probioma, fasste am gestrigen Forum zum Thema «Auswirkungen […]

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