Im achten Strassenring von Santa Cruz lebt ein Jaguar. Als er zur Welt kam, war hier noch Wald. Jetzt besiedeln wohlhabendere Bolivianer_innen und Ausländer_innen die so genannten Condominios, die hier in den letzten Jahren aus dem Boden gestampft wurden. «Reichenghettos» nennen manche ihrer Bewohner_innen sie – und tatsächlich fühlt man sich in diesen Securitas-bewachten Siedlungen mit den herausgeputzten Häuschen, den ordentlichen Rasenflächen und dem hotelmässig anmassenden Gemeinschaftsraum mit Swimmingpool wie in einer anderen Welt. Das ist nicht Santa Cruz mit seinem Lärm und Geschrei, seiner dröhnenden Musik, seinen schmutzigen Strassen und Abgasschwaden, den chaotischen Märkten, den streunenden Hunden, den Obdachlosen und Strassenkindern, den zwielichtigen Gestalten, den Strassenverkäufern, den rücksichtslosen Autofahrern, den von Regenwasser überquellenden Strassen, den Baustellen, die meine Wohnung mit Staub eindecken… und wie lieb ich dieses ganze Gewimmel gewonnen habe! Denn hier bin ich mittendrin, mitten im Leben.
Zurück zum Jaguar. Sein Revier erstreckt sich von den Wäldern am Stadtrand über den Flughafen Viru Viru bis hinein in die Aussenquartiere von Santa Cruz, und er hat sich so an die Menschen gewöhnt, dass er eigentlich keine Gefahr darstellt. Davon, dass die Bauern männliche Kälbchen einfach fortjagen, weil sich mit ihnen keine Milch produzieren lässt, profitiert er gerne – eigentlich eine Win-Win-Situation. Trotzdem will man ihn einfangen. Gesichtet wurde er noch nie, doch Kameras mit Bewegungsmeldern haben ihn schon öfter abgelichtet. Seit einem Jahr versucht ein ganzes Team, ihn zu kriegen, doch er lacht sich nur ins Fäustchen.

Am Samstag habe ich mit einem der Jaguarfänger gesprochen. Hinter vorgehaltener Hand hat er zugegeben, dass er insgeheim hofft, dass sie ihn nicht bekommen. Denn dann würde er wahrscheinlich nicht mehr lange leben. Leider ist davon auszugehen, dass er durch den Kontakt mit Strassenhunden oder Abfall mit irgendwelchen Krankheiten infiziert ist. Sollte sich dies bestätigen, kann er auf keinen Fall ausgewildert werden, weil er dann der Rest der Population gefährden würde. Und selbst wenn er gesund sein sollte, würde es schwierig, denn die Region ist schon flächendeckend von Jaguaren besiedelt. Bis zu 150 Quadratmeter beanspruchen Jaguare als Jagdrevier, und sie akzeptieren keine Mitbewohner. Auf diese Weise würde unser Stadtjaguar wohl erneut an den Rand der Zivilisation gedrängt, wenn man ihn auswilderte. Wobei, eigentlich sieht es ja so aus: WIR dringen in SEINEN Lebensraum vor, nicht er in unseren. ER ist der ursprüngliche Bewohner des achten Rings, und zwar schon, wie man annimmt, in der zweiten oder dritten Generation. Woher nehmen wir uns also das Recht, ihn wegzuschaffen? Ich hoffe jedenfalls, dass er den Fängern weiterhin nur sein Hinterteil auf nächtlich geschossenen Fotos zeigt. So viel wie in Bolivien über Landrechte diskutiert wird, möchte ich auch dem Jaguar meine Solidarität aussprechen. Auf dass er noch lange und zufrieden lebe und auf dass sein Revier durch aus dem Zentrum fliehende Santa Cruzer nicht bald noch mehr eingeschränkt werde!

Du schreibst richtig gut, liebe Nicole: Anschaulich und witzig;-chapeau!
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Vielen vielen Dank liebe Esther! 🙂 Herzliche Grüsse aus Santa Cruz, wo heute seit langem zum ersten Mal wieder die Sonne scheint…
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Wunderbar;- das ist doch was! Hier in Seebach hält langsam der Sommer Einzug…
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…. und ich dachte die ganze Zeit; Jaguar, ja klar… fettes Auto am Stadtrand… aber neee, Jaguar, Tier, Leben… auch am Stadtrand. Möge sich noch eine Jaguar-Dame dazu gesellen 🙂
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Hahaaaa ja das wäre auch was! 😀 😀
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