Nach meiner Teilnahme an einem Kolloquium zum Thema Feminismus und Dekolonisierung in Peru ist mir vor allem eins klar: Der kritische Blick auf die Entwicklungszusammenarbeit – der auch eine radikale Selbstkritik beinhaltet –, welcher mich seit einiger Zeit umtreibt, ist weder übertrieben noch Ausdruck einer Krise, wie mir verschiedentlich diagnostiziert wurde, sondern hat bisher ganz im Gegenteil nur an der Oberfläche gekratzt.
Die Teilnehmer_innen des Kolloquiums kamen aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern; die Handvoll, die aus Europa kam, war sich einig, dass wir hier besser nur zuhören. Was hätten wir schon gross beitragen können angesichts der Testimonials der Vertreter_innen verschiedener indigener Völker, die uns das Ausmass der Kolonisierung noch einmal drastisch vor Augen führten? Es geht längst nicht mehr nur um die Verbrechen des 16. Jahrhunderts, als einige Europäer hier und an anderen Orten der Erde ankamen, sich zu Besitzern des Territoriums erklärten und im Ernst glaubten, das Recht zu haben, Natur und Bevölkerung ausbeuten zu können, als ob es sich bei ihnen um minderwertige Lebewesen handelte.
Nein – es geht um viel mehr. Zum Beispiel darum, dass die Nachfahr_innen der ehemaligen Kolonisierer_innen den indigenen Völkern an vielen Orten noch heute mit der selben Geringschätzung und dem selben Rassismus begegnen. In Bolivien, Peru und in vielen anderen lateinamerikanischen Ländern teilt sich die Bevölkerung in Indigene und die so genannten Mestiz_innen («Mischlingen»), Nachfahr_innen von Europäer_innen, die Indigene geheiratet haben, wobei die Indigenen nach wie vor in allen Lebensbereichen benachteiligt sind: Sowohl von Seiten der Gesellschaft als auch von Seiten des Staates werden sie teilweise massiv diskriminiert, angefangen bei der Enteignung ihrer Territorien – womit sich die Kolonialisierung auf schreckliche Art und Weise wiederholt. Immer wieder fallen indigene Territorien extraktivistischen Projekten zum Opfer: Staudämme, Minen und Ölbohrungen zerstören nicht nur Regenwälder und vergiften Böden, Flüsse und Seen, sondern verschlingen auch Dörfer und landwirtschaftliche Parzellen von indigenen Gemeinschaften. Ein weiteres Mal wird Besitz ergriffen von der Erde, die Aymaras, Quetchuas und andere indigene Völker seit Jahrhunderten bewirtschaften und damit ihre Lebensgrundlage sichern.
Doch die Beraubung ihrer existentiellen Rechte geht viel tiefer. «Der peruanische Staat will uns unsichtbar machen und zum Schweigen bringen», erzählte Walter, ein Teilnehmer des Kolloquiums. «Ich bin im Glauben aufgewachsen, das alles, was uns Aymaras ausmacht, schlecht ist, und alles, was aus dem Westen kommt, gut. Überall wo wir hingingen, fühlten wir uns ausgeschlossen und diskriminiert. Wenn wir in der Stadt unsere traditionellen Kleider trugen und uns zum Beispiel in einer Schlange anstellten, auf einem Amt oder beim Arzt, wurden wir nicht behandelt. Wir mussten westliche Kleider anziehen, um an die Reihe zu kommen. Wir wurden gezwungen, uns zu assimilieren. Die Konsequenz daraus ist, dass vieles verloren geht, was uns ausmacht: unsere Sprache, unsere Lebensweise, unsere Kenntnisse. Wir haben nun Zugang zu den Schulen und Universitäten. Aber dafür geht unser eigenes Wissen verloren. Und wir haben viel Wissen, altes Wissen. Doch sie haben uns glauben gemacht, dass dieses Wissen weniger Wert ist. Und jetzt entdecken sie plötzlich Dinge, die wir schon immer wussten. Früher hiess es zum Beispiel, dass Quinoa nichts Wert ist, ein Essen für Arme. Und jetzt wollen alle plötzlich Quinoa. Das ist ein Teil des alten Wissens der Aymara.»
Der Dekolonialisierungsprozess muss nicht nur in Europa stattfinden, sondern auch innerhalb der lateinamerikanischen Gesellschaften – und das Bewusstsein wächst, in kritischen Kreisen wird immer mehr darüber diskutiert. Doch es ist etwas anderes, wenn nicht-indigene Bolivianer_innen oder Peruanier_innen darüber sprechen, als wenn ein_e Europäer_in sich dazu äussert. In den Diskussionen des Kolloquiums wurde sehr deutlich, dass bei vielen Wut und Schmerz über das seit Generationen erlittene Unrecht so tief sitzt, dass auf alles, was aus «dem Westen» kommt, mit unüberwindbarem Misstrauen und teilweise auch mit radikaler Ablehnung reagiert wird. Auch wenn wir uns in Europa für die Rechte von Migrant_innen und Geflüchteten einsetzen, auch wenn wir hier vor Ort versuchen, den Kampf von Indigenen oder Frauen zu unterstützen – die strukturelle Ungleichheit bleibt immer bestehen. Was auch immer wir tun oder lassen, wir befinden uns trotzdem in der Situation von Privilegierten, und zwar in einem viel umfassenderen Ausmass, als wir uns bewusst sind. Das Gewicht des Kolonialismus lastet schwer, und zwar auf uns allen. Eine spanische Kollegin von mir entschuldigt sich in Bolivien immer für das, was die Spanier hier angerichtet haben. Natürlich ist es nicht unsere Schuld – weder, was im 16. Jahrhundert passiert ist, noch das, was heute passiert. Trotzdem ist es eine Realität, angesichts derer ich manchmal ratlos bin, was ich überhaupt machen kann. Ich kann nichts dafür, dass ich in der Schweiz geboren bin, und auch wenn mich die weltweite Ungerechtigkeit wahnsinnig macht, bin ich trotzdem ein Teil dieses Systems und befinde mich auf der Seite der Profiteurinnen. Dies macht es unglaublich schwierig, die Vision der «Zusammenarbeit auf Augenhöhe» wirklich umzusetzen. In Bolivien arbeite ich grösstenteils mit Menschen aus der Mittelschicht zusammen. Man könnte sagen, dass es dies leichter macht, doch eigentlich verbirgt es einfach nur das Grundproblem. Das Grundproblem, dass die ganze Welt auch heute noch kolonial strukturiert ist, und es praktisch unmöglich ist, angesichts dessen eine angemessene Rolle zu finden, wenn man sich für mehr globale Gerechtigkeit einsetzen will, aber immer unausweichlich auf der Seite der Privilegierten steht.
Liebe Nicole,
ich kann Deine Erfahrung und Gefühle sehr gut nachvollziehen, weil ich sie unzählige Male in Peru und Bolivien gemacht habe und immer wieder sehr stumm geworden bin. Dass unsere Welt nicht weniger, sondern vielleicht gar noch kolonialer oder neo-kolonialer geworden ist, steht für mich fest, nur ist dieser Kolonialismus für die meisten Profiteure unsichtbar, weil wir die Opfer von Diskriminierung und Kolonialismus nicht direkt vor uns haben, und wenn wir sie in der Gestalt von Geflüchteten tatsächlich vor unserer Haustür sehen, stempeln wir sie im Handumkehren zu einer Bedrohung und zu Sozialschmarotzern, gar nicht unähnlich der Art und Weise, wie dies die spanischen Conquistadores und Hazenderos mit der indigenen Bevölkerung Abya Yalas getan haben. Die Dekolonisation ist eine Daueraufgabe, die uns auch hier in der Schweiz beschäftigen sollte, aber weit gefehlt: „wir hatten ja nie Kolonien“ wird dann gesagt.
Danke für Deinen Text.
Persönlich bedeutet dies für Dich immer wieder eine Zerreissprobe: Teil des ausbeuterischen und neo-kolonialen Systems zu sein, Projektionsfläche für anti-westliche Ressentiments, und zugleich solidarisch mit den Anliegen der indigenen Bevölkerung zu bleiben. Bleib dran, trotz der Widersprüche.
Sepp
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Lieber Sepp, vielen herzlichen Dank für deinen Kommentar. Es ist beruhigend zu wissen, dass andere Ähnliches erlebt haben und ähnlich denken – wobei es natürlich schlimm ist, dieses Unbehagen bestätigt zu sehen. Ich denke nach wie vor, dass es auch von jeder und jedem einzelnen abhängt, wie er oder sie mit der Situation umgeht und welche Rolle man in diesem ganzen Konstrukt findet… Liebe Grüsse!! und bis bald, Nicole
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Liebe Nicole
Dein Beitrag berührt und beschämt mich zugleich! Ich erinnere mich, als wir an der Uni Fribourg 1992 aus studentischer Initiative einen Vorlesungszyklus mit begleitenden Veranstaltungen durchführten, die unter dem Titel ‚Die Verdeckung des Anderen‘ liefen; angelehnt an den Buchtitel von Enrique Dussel, der damals auch zu Gast war ‚1492: El encubrimiento del otro : hacia el origen del mito de la modernidad‘. Anbei der Link auf das Buch, falls es dich interessiert: https://de.slideshare.net/Romercito2/enrique-dussel-el-encubrimiento-del-otro
‚500 años de Resistencia‘ war das andere Stichwort. Leider immer noch aktuell. Gerade hier setzt auch die Konzernverantwortungsinitiative an, indem sie dem ausbeuterischen und respektlosen Gebaren von aus der Schweiz heraus operierenden Multis einen Riegel schieben will. Ein Fallbeispiel stammt ja auch von Comundo: https://konzern-initiative.ch/neuigkeit/glencore-peru/
Wenn ich sehe, wie wir hier in Europa mit Flüchtlingen umgehen, welche auch aus durch koloniale und neo-koloniale Geschichte geprägten Kontinenten und Ländern stammen, dann zieht sich mein Herz nochmals zusammen. Und dass auch die Schweiz daran ihren Anteil hat, beweist folgende Studie: https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-22679
Bleib widerständig und doch hoffnungsfroh!
Herzlich
Esther.
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Liebe Esther! Vielen herzlichen Dank!! Dussel haben wir in diesem Zusammenhang auch diskutiert, ich muss unbedingt mehr von ihm lesen. Der Link zu den Geflüchteten ist zentral, ich versuche das auch immer wieder zu erklären: Die Menschen fliehen von genau den Zuständen, die «der Norden» im «Süden» geschaffen hat – die neutrale Schweiz liefert auch gern Waffen dafür… Manchmal möchte man wahnsinnig werden, aber besser ist’s, wir bleiben dran und tun das Bisschen, das wir tun können… Ganz herzliche Grüsse!! und bis bald, Nicole
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Zum Unbehagen an der Entwicklung
(Für Nicole)
Am Wegesrand
können wir uns niedersetzen
innehalten
uns selbst
und anderen
Einhalt gewähren.
Wir wollen weder mit noch gegen den Strom schwimmen.
Auch wenn die Tage aufeinander folgen
nehmen wir uns heraus
halten die Luft an
und lauschen der Stille des Augenblicks.
Wirf dein Schwert
dein Kreuz
in den Busch dort hinten,
wir müssen keine Lanze brechen
weder für die Reichen
noch für die Armen dieser Welt.
Wenn wir bereit sind
lass uns weitergehen, querfeldein,
und schauen, was uns dort blüht.
Anne-Margarita
Ab 16. Juli sind auch Andrés und ich mit COMUNDO in Santa Cruz. Bis bald, Nicole!
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Schönes Gedicht, dessen Inhalt mich jedoch fragen lässt, weshslb Sie denn einen Einsatz mit COMUNDO machen, wenn Sie weder gegen den Strom schwimmen, noch eine Lanze für die Armen brechen wollen …
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Danke Anne und bis gleich in SCZ 😉 Ich glaube, wir können schon mehr tun als uns niederzusetzen, aber es ist wichtig für sich herauszufinden, wann man zuhören und wann man kämpfen soll. Ich habe im Moment das Gefühl, die Sensibilisierungsarbeit, vor allem auch im «Norden», ist etwas vom Zentralsten an unserer Arbeit… Verantwortungen und Zusammenhänge aufzuzeigen… Liebe Grüsse!
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