Dekolonisation als Transversalthema in der EZA

Im Juni war ich an ein Treffen der AGEH eingeladen, an dem das Projekt «Weltdienst» konkretisiert werden sollte, mit dem Fachpersonen aus dem Globalen Süden nach Deutschland geschickt werden sollen, um den Spiess der Entwicklungszusammenarbeit umzudrehen (siehe Beitrag vom 9. Juni). An diesem Treffen haben sich verschiedene Kommissionen gebildet, die in den nächsten Jahren im Rahmen des «Weltdienst»-Projekts zu unterschiedlichen Themen arbeiten werden, um zu diesem historischen Paradigmenwechsel beizutragen. Ich habe den Vorschlag eingebracht, dass sich eine der Kommissionen mit dem Thema Dekolonisation beschäftigen sollte, um zu vermeiden, dass der «Weltdienst» in ähnliche Fallen tappt wie viele andere Projekte der Entwicklungszusammenarbeit. Tatsächlich haben sich sieben Personen aus Bolivien, Brasilien, Benin und Deutschland gefunden, die in dieser Kommission aktiv sein möchten. Um zu illustrieren, warum dieses Thema auch Jahre nach dem so genannten Ende des Kolonialismus von zentraler Bedeutung für die gesamte internationale Zusammenarbeit ist, habe ich einen ersten kurzen Grundlagentext dazu geschrieben, den ich hier gerne teile. Vielen Dank fürs Feedback und weitere Anregungen, denn die Arbeit der Kommission fängt damit erst gerade an!


Dekolonisiation: Soziale Transformation und Dialog

Kontext

Von «Postkolonialismus» zu sprechen, kann in die Irre führen: In Wirklichkeit ist der Kolonialismus nicht einfach eine historische Gegebenheit, die als überwunden betrachtet werden kann – im Gegenteil. Die heutige Welt zeichnet sich durch Strukturen, Zusammenhänge und Grundhaltungen aus, die man als geradezu hochgradig kolonial bezeichnen muss.

Bis heute wird von der «Entdeckung» Amerikas durch Christoph Kolumbus gesprochen, doch das heutige Nord-, Zentral- und Südamerika war längst «entdeckt» und besiedelt: Als Kolumbus in der «Neuen Welt» ankam, umfasste die indigene Bevölkerung mehr als 100 Millionen Menschen. 80 bis 90 Prozent davon starben in den folgenden Jahrzehnten, während die «Eroberer» ihre Bodenschätze einsackten, die indigenen Völker als primitiv und rückständig desqualifizierten und ihren Kenntnissen sowie ihrem Lebensstil jeglichen Wert absprachen. Eine der Konsequenzen dessen ist, dass heute ganz Lateinamerika Spanisch und Portugiesisch spricht und laut UNICEF mehr als ein Fünftel der 557 indigenen Sprachen des Kontinents vom Aussterben bedroht sind. Wer Teil am öffentlichen Leben haben will, Mitsprache in der Politik, Zugang zur Gesundheitsversorgung und zu formaler Bildung (was wiederum Voraussetzung für den Zugang zu vielen Arbeitsplätzen darstellt), sieht sich gezwungen, Spanisch zu sprechen – die Sprache der alten Kolonialmacht –, und seine eigene Identität bis zu einem gewissen Punkt zu verleugnen.

Auch die Tradition der Ressourcen-Ausbeutung hält sich seit 500 Jahren ungebrochen. Aus dem bolivianischen Cerro Rico in Potosí zum Beispiel hat Spanien im im 16. Jahrhundert insgesamt 36’000 Tonnen Silber geholt, und Bolivien hatte davon nichts als acht Millionen tote Minenarbeiter_innen. Heute sind immer noch 10’000 Menschen in den Minen von Potosí tätig, im Durchschnitt stirbt alle zwei Tage einer, und die Lebenserwartung liegt bei 45 Jahren. Was sich auf den ersten Blick geändert hat, ist, dass nicht mehr eine Kolonialmacht das Geld einsackt, sondern Bolivien selbst. Im Jahr 2001 exportierte Potosí Silber, Blei und Zink im Wert von zweieinhalb Milliarden Dollar. Aber auch wenn die bolivianische Wirtschaft dadurch jährlich um fünf Prozent gewachsen ist, floss das Geld anderswohin: Potosí blieb das ärmste Departement des Landes. Das wertvolle Metall wurde exportiert, und profitiert haben staatliche und ausländische Minengesellschaften, deren CEOs teilweise mehr als 10’000 Dollar pro Monat verdienen, während den Arbeiter_innen – teilweise Kindern – im Schnitt gut 200 Dollar bezahlt werden. Einer der Langzeiteffekte der «Eroberung» ist nämlich die internationale «Arbeitsteilung», die die Länder des Globalen Südens dazu zwingt, die Rohstofflieferanten für den gesamten Planeten zu spielen, wobei der Großteil des im Süden geförderten Materials im Globalen Norden konsumiert wird: Der ökologische Fußabdruck der USA liegt bei 8,5, derjenige Europas bei 4,8 Planeten, die nötig wären, um die Bedürfnisse ihrer Bevölkerungen zu befriedigen, während der ökologische Fußabdruck Lateinamerikas bei 3 liegt, derjenige Asiens bei 2,3 und derjenige Afrikas bei 1,4.

Die Rolle der katholischen Kirche

Man kann nicht über Kolonialismus sprechen, ohne auf die Rolle der katholischen Kirche bei der «Eroberung» Amerikas einzugehen. Am 3. Mai 1493 befahl Papst Alexander VI. in der Bulle «Inter caetera divinae» den Missionaren, die «Eingeborenen» der betreffenden Länder zum katholischen Glauben zu bekehren und sie damit zu «erlösen»:

 Alle entdeckten Inseln und Festländer jenseits der Linie, soweit sie nicht bis zum Beginn des Jahres 1493 von einem anderen christlichen König in Besitz genommen sind, mit allen Herrschaften, mit Städten, Festungen und Ortschaften, mit Rechten, Gerichtsbarkeiten und Kompetenzen gehören Euch, und wir setzen Euch, Eure Erben und Nachkommen als deren Herren mit voller, freier und allseitiger Gewalt, Autorität und Rechtsprechung ein. (…) Wir befehlen Euch, kraft heiligen Gehorsams, dass Ihr nach jenen Festländern und Inseln rechtschaffene und gottesfürchtige Männer ausschicket, die klug, kundig und erfahren sind, um die genannten Eingeborenen und Bewohner im katholischen Glauben zu unterweisen und sie gute Sitten zu lehren. Unter allen Werken, die der Göttlichen Majestät angenehm sind und unser Herz wünscht, steht gewiss am höchsten, dass der katholische Glaube und die christliche Religion besonders in unseren Zeiten verherrlicht und überallhin verbreitet werden, dass man sich um die Rettung der Seelen bemüht und die barbarischen Völker unterworfen und zum christlichen Glauben gebracht werden.

 Damit stellte der Papst klar, dass er sich im Recht sah, über die Besitzverhältnisse dieser Territorien zu entscheiden, die eigentlich schon Besitzer_innen hatten, welche aber als nackte Kreaturen ohne Seele desqualifiziert wurden und die man «erlösen» musste, indem man ihnen die Kultur und die Religion der «Eroberer» aufzwang. Jahrhunderte lange sprach man von der «Bürde des weissen Mannes», als dessen Pflicht es betrachtet wurde, die indigenen Völker zu ihrem eigenen Wohl zu «retten» und zu «zivilisieren», da sie in einem primitiven und unwürdigen Zustand lebten. Und sehr lange wurde die dieser Ansicht zu Grunde liegende Haltung nicht hinterfragt: dass die Kenntnisse, die Lebensweise und die Weltsicht Europas als besser und wertvoller betrachtet wurden als die der restlichen Welt, obwohl wir heute wissen, dass es genau der Lebensstil des Globalen Nordens ist, der den Planeten zerstört.

Doch genauso wie die kolonialen Strukturen kann auch diese überhebliche Grundhaltung nicht als überwunden betrachtet werden, und dies stellt eine grosse Gefahr für die Entwicklungszusammenarbeit dar, deren Strukturen, Prozesse und Machtverhältnisse nach wie vor durch Ungleichheit geprägt sind: Es ist immer noch der Globale Norden, der die Bedingungen, Ziele und Methoden der meisten Projekte definiert. Man versucht zwar inzwischen, die Partner_innen aus dem Süden mehr einzubeziehen, aber die Grundstrukturen der Entwicklungszusammenarbeit sind immer noch genau so asymmetrisch wie das ganze globale System, und dies trotz Prinzipien wie «Zusammenarbeit auf Augenhöhe» und «gegenseitigem Lernen», die Bestandteil der Leitbilder vieler Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit sind. Es muss sorgfältig analysiert werden, inwiefern der Globale Norden immer noch an seiner Grundüberzeugung festhält, dass seine Werte, seine Weltsicht und seine Lebens- und Arbeitsweise denjenigen des Globalen Südens überlegen sind, was ihn dazu berechtigt, diesem zu «helfen», indem er ihm etwas beibringt – und inwiefern die Grundidee und die Praxis der heutigen Entwicklungs-zusammenarbeit Produkt dieser Grundüberzeugung sind.

Angesichts dieser Situation ist es zentral, dass ein Projekt wie der «Weltdienst» die Thematik Kolonialismus und Dekolonisation miteinbezieht, und zwar als Transversalthema, um ernsthaft einen Paradigmenwechsel zu erreichen und die Prinzipien der «Zusammenarbeit auf Augenhöhe» und des «gegenseitigen Lernens» wirklich umzusetzen.

sangre
«In Amerika haben alle etwas indigenes Blut. Die einen in den Adern und die andern an den Händen.» – Eduardo Galeano.

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