Am Freitag waren dann die Stimmen endlich fertig ausgezählt, und es bestätigte sich, was sich bereits in den 24 Stunden davor immer deutlicher abgezeichnet hatte: Evo Morales hatte die 10 nötigen Prozent Vorsprung auf Carlos Mesa knapp erreicht und somit die Wahl gewonnen. Allerdings ist es während der Auszählung zu so vielen Ungereimtheiten und Spekulationen gekommen, dass viele davon überzeugt sind, dass Wahlbetrug vorliegt. Nicht nur Oppositionespolitiker_innen und Organisationen der bolivianischen Zivilgesellschaft, sondern auch verschiedene internationale Instanzen fordern eine Überprüfung der Resultate oder einen zweiten Wahlgang – auch die UNO und die EU. Doch Evo Morales und seine Anhänger_innen beharren darauf, dass seine Wahl ein demokratischer Volksentscheid sei, an dem nicht gerüttelt werde. Carlos Mesa dagegen sieht die demokratischen Rechte der Bevölkerung verletzt und ruft diese dazu auf, das Resultat nicht hinzunehmen und die «friedlichen» Proteste fortzusetzen, bis Morales einlenkt. Friedlich sind die Proteste jedoch längst nicht überall – es lässt sich beobachten, wie die Dynamik sich je länger desto mehr verselbständigt. Vor allem sind es viele jungen Leute, die auf die Strasse gehen – und viele von ihnen gehören nicht einmal politischen oder sozialen Organisationen an. Es ist auf allen Seiten eine grosse Wut spürbar, die sich auch in den Slogans äussert, die während den Demos unisono erschallen – sie sind rassistisch, sexistisch und homophob, zielen auf persönliche Beleidigungen weit unter der Gürtellinie ab und haben mit dem eigentlichen Anliegen nichts mehr zu tun.
> mehr zu den Hintergründen siehe Blogeinträge vom 22. Oktober und vom 23. Oktober

Der Streik und die Blockaden gehen in verschiedenen Städten weiter und sollen erst beendet werden, wenn die Regierung nachgibt. Da dies wenig wahrscheinlich ist, können wir uns darauf einstellen, dass es noch eine Zeitlang so weitergeht – und das ist noch eins der weniger beunruhigenden Szenarien. Zurzeit sind Schulen, Firmen und Läden geschlossen, die Märkte öffnen stundenweise, mit reduziertem Angebot und steigenden Preisen. Evo Morales hat gedroht, alle Städte, die weiter streiken, zu «belagern», sprich von der Versorgung abzuschneiden, doch die Bevölkerung bleibt genauso stur wie er: Sie wollen nicht nachgeben, bis ihre Forderungen (auf einen zweiten Wahlgang oder sogar auf Neuwahlen) akzeptiert werden. Selbst in meinem Quartier, das nicht in der Nähe der Hauptversammlungsplätze liegt, hört man Tag und Nacht Böllerschüsse und Sirenen.
Evo Morales spielt inzwischen die «indigene Karte» aus: Alle, die ihn kritisieren, beschuldigt er des Rassismus und der Diskriminierung – das Problem liegt laut ihm weder in seinen politischen Entscheiden noch in der Art und Weise, wie er mit Gesetz und Demokratie umgeht, sondern einzig und allein darin, dass er ein Indigener ist. Zweifellos gibt es viele Bolivianer_innen, bei denen diese Anschuldigung gerechtfertigt ist, doch vielen geht es um etwas anderes. Dazu kommt, dass sich auch verschiedene indigene Organisationen klar und offen gegen Evo Morales stellen und betonen, dass er sie nicht vertritt, sondern vielmehr ihre Rechte verletzt. «Evo Morales hat den Namen der Indigenen missbraucht, um das bolivianische Volk zu hintergehen», sagte am Donnerstag ein Vertreter des indigenenen Protestmarsches, der seit Wochen durchs Land zieht.

Um das aktuelle Geschehen und die Hintergründe etwas zusammenzufassen, habe ich aus verschiedenen Bildern und Nachrichtensendungen ein kurzes Video zusammengeschnitten und mit Informationen auf deutsch ergänzt. Danke fürs Teilen. Ergänzend empfehle ich diesen ausführlichen Artikel in der ZEIT, der die Ereignisse gut zusammenfasst, wenn auch für meinen Geschmack teilweise ein bisschen zu polemisch.