Dynamit, neue Allianzen und ein Brief

In den letzten Tagen habe ich mir vermehrt Medien-Auszeiten genommen, denn wenn man eine bolivianische Online-Zeitung öffnet, Radio oder Fernsehen einschaltet oder die 254 neu eingegangen WhatsApp-Nachrichten anschaut, wird man mit Meldungen über das immer stärker ausartende Debakel überflutet, das Bolivien seit den Präsidentschaftswahlen vor mehr als zwei Wochen den Schlaf raubt. Dabei weiss man im Grunde je länger desto weniger, was man glauben kann – es sind Unmengen von Gerüchten, Spekulationen, Behauptungen und Dementi im Umlauf. Da ich vor allem von Schweizer Freund_innen fast täglich gefragt werde, wie es hier inzwischen aussehe, versuche ich wieder einmal, die neusten Ereignisse zusammenzufassen.

Insgesamt verschärft sich die Situation von Tag zu Tag, die  Konfliktparteien entfernen sich immer weiter voneinander, die Forderungen werden extremer, die Diskurse und die gegenseitigen Anschuldigungen aggressiver, und die Auseinandersetzungen auf den Strassen verwirrender und gewalttätiger. Zivile Gruppen beider Seiten greifen zu radikalen, teilweise absurden Mitteln, um Druck auf die Gegenseite zu machen oder auch einfach nur ihrer Wut Ausdruck zu verleihen – eine Art Selbstjustiz, zu der sich offenbar viele mit erschreckender Selbstverständlichkeit berechtigt sehen.

Am Samstag Abend haben die Vertreter_innen der Zivilkomitees von sieben Departementen Evo Morales ein Ultimatum von 48 Stunden gestellt. Wenn er bis dahin nicht zurücktrete, werde man zu härteren Mitteln greifen. Diese wurden dann am Montag Abend bekannt gegeben: die Besetzung aller staatlichen Institutionen, um den Staat lahmzulegen, und die Sperrung der Grenzen, um den Export zu stoppen, der dem Staat Einnahmen bringt. Inzwischen sind laut Medienberichten mehr als 40 Behördenstellen wie Gerichtsgebäude, Steuerverwaltungen, Staatsanwaltschaften, Zoll- und Migrationsbehörden und ein Büro des staatlichen Erdölunternehmens YPFB in 8 Departementen besetzt sowie die Grenzen zu Argentinien, Brasilien, Peru und Chile blockiert, allerdings nur auf dem Landweg – über internationale Flughäfen kann man ausreisen (sofern man denn an den Strassenblockaden vorbei zum Flughafen kommt). (Quelle: Página Siete)

Die Zivilkomitees haben ein Rücktrittsschreiben im Namen von Evo Morales verfasst, das er nur noch unterschreiben müsse – denn darin stimmen nun eigentlich alle Parteien und Gruppierungen, die nicht hinter Morales stehen, überein: Er müsse zurücktreten und es müsse komplett neue Wahlen geben, zu denen er nicht zugelassen sei, ausserdem müsse eine neue nationale Wahlkommission eingesetzt werden. Ein zweiter Wahlgang oder die zurzeit laufende Revision des ersten Wahlgangs interessiert eigentlich niemanden mehr. Als Fernando Camacho, der Kopf der Zivilkomitees – der zu so etwas wie dem Gesicht des Widerstands wurde, während der offizielle politische Gegenkandidat Carlos Mesa ein wenig von der Bildfläche verschwunden ist – nach La Paz reiste, um Evo Morales «zum Rücktritt zu zwingen», fanden sich laut Medien- und Augenzeugenberichten tausende von Morales-Anhänger_innen (darunter einige hohe Funktionäre der Regierungspartei MAS) am Flughafen ein, um ihn nicht nur zu stoppen, sondern «auszuliefern» (sic!) – was zwischen den Zeilen anklang, rechtfertigt durchaus Camachos Beteuerung, dass sein Leben auf dem Spiel gestanden habe. (Quelle: Página Siete). Schliesslich wurde er aber – nach eigenen Angaben gegen seinen Willen – wieder nach Santa Cruz zurückgeflogen. «Ich werde diesen Brief ausliefern», sagte er, «und wenn ich jeden Tag nach La Paz muss.» Heute startet er den nächsten Versuch, und die Regierung hat ihm Schutz versprochen. Camacho wird immer mehr zur Zielscheibe der Regierungs-Anhänger_innen, die ihn als Rassisten und Putschisten sowie als Marionette der USA betrachten. (Quelle: El Deber) Sein Diskurs wird tatsächlich täglich heftiger und aufrührerischer, und vor allem in Santa Cruz sehen ihn viele als eine Art mutigen Rebellenführer.

Die Gruppen, die sich am Flughafen versammelt hatten, zogen nach Camachos «Evakuierung» aber nicht ab, sondern errichteten einen illegalen Kontrollposten, an dem alle Passagiere ihren Ausweis zeigen mussten. Gemäss Aussagen mehrerer Personen beleidigten und schikanierten sie diejenigen, die aus Santa Cruz kamen und zwangen sie, auf die Knie zu gehen und sich für den Rassismus zu entschuldigen, den das Tiefland dem Hochland entgegenbringe. (Quelle: Página Siete)

Allgemein ist zu beobachten, dass die verschiedenen Konfliktparteien sich nicht nur die selben Anschuldigungen an den Kopf werfen, sondern auch das Vokabular und die Slogans dazu voneinander übernehmen. So sprechen inzwischen sowohl Evo-Anhänger_innen als auch Evo-Gegner_innen vom Putschversuch der anderen Seite sowie von Rassismus und Diskrimination, und beschuldigen sich gegenseitig, sich über die Demokratie hinwegzusetzen, zu Gewalt aufzurufen, etc.

Historisch sind allerdings die neuen Allianzen, die sich in diesem ganzen Chaos bilden. Dass Vertreter_innen der Zivilkomitees von Hochland-Departementen sich an die Bevölkerung von Santa Cruz richten und ihnen danken, dass sie diese Widerstandbewegung anführen, und sich auf der anderen Seite das Zivilkomitee von Santa Cruz im Namen aller Departamentsbewohner_innen für allfällige Diskriminierungen oder Beleidigungen entschuldigt, die in der Vergangenheit vorgekommen sein mögen, gehört zur Kategorie «noch nie dagewesen» und ist ein sehr intelligenter Schachzug, um die landesweite zivile Bewegung zu stärken und anzufeuern. «Bolivia unida» heisst das neue Schlagwort – «vereintes Bolivien», oder: Alle gegen Evo. Auch dies entspricht allerdings nicht ganz der Realität: Bereits zwei Zivilkomitees haben Fernando Camacho für sein Vorgehen kritisiert und dieses als Alleingang bezeichnet. (Quelle: Página Siete)

Derweilen kommt es vor allem in den Strassen und auf den Plätzen von La Paz, Oruro und Cochabamba zu heftigen Auseinandersetzungen, an denen laut Medienberichten und Videos in den sozialen Medien mit Schlagstöcken, Dynamit und Molotow-Cocktails hantiert wird, während die Polizei mancherorts massiv Tränengas einsetzt, und andernorts versichert, sich nicht gegen das Volk stellen zu wollen. Die Zivilkomitees haben am Montag einen Brief der Polizei verlesen, in welchem diese Forderungen betreffend ihrer Arbeitsbedingungen «an die neue Regierung» richtet. Dies lässt einmal mehr vermuten, dass Zivilkomitees und Streitkräfte in irgend einer Form zusammenarbeiten, was keine Selbstverständlichkeit und so ziemlich alles zwischen seltsam und beunruhigend ist – besonders nachdem die Zivilkomitees bereits am Samstag einen offenen Brief ans Militär verlesen haben, indem sie darum bitten, dass die Streitkräfte an der Seite des Volkes (sprich nicht an der Seite der Regierung) stehen sollen. Evo Morales seinerseits richtete sich heute in einer Rede an die Streitkräfte, um sie zu bitten, die «grossen Veränderungen» des Landes mitzutragen und die Souveränität des Staates zu garantieren (sprich an der Seite der Regierung zu stehen). (Quelle: El Deber) – Die Polizist_innen des Landes derweil, vom tiefsten bis zum höchsten Dienstgrad, haben 3000 Bolivianos (ca. 430 Franken) pro Kopf bekommen, offenbar ohne plausiblen Grund. Es wird von einem «Loyalitätsbonus» gesprochen und vermutet, dass die Polizei damit animiert werden soll, sich nicht von der Regierung abzuwenden. (Quelle: Página Siete)

 

 

Demonstrationen und Ausschreitungen sind in Bolivien inzwischen an der Tagesordnung, werden aber immer heftiger und gewalttätiger. Quelle: Los Tiempos

4 Kommentare

  1. Liebe Nicole Vielen Dank für Deine ausführliche Berichte. Als ehemaliger Interteamler in Bolivien interessieren mich diese sehr. http://ecosaf.org/agroforst.html Viel Mut, Kraft und Ausdauer für Deine Arbeit. Muchos saludos y fuerza! Johannes

    Am Mi., 6. Nov. 2019 um 21:33 Uhr schrieb Nicole Maron Oscamayta :

    > Nicole Maron Oscamayta posted: „In den letzten Tagen habe ich mir vermehrt > Medien-Auszeiten genommen, denn wenn man eine bolivianische Online-Zeitung > öffnet, Radio oder Fernsehen einschaltet oder die 254 neu eingegangen > WhatsApp-Nachrichten anschaut, wird man mit Meldungen über das imme“ >

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  2. Danke für diese super Zusammenfassung, Nicole! Wenn man hier mittendrin lebt, wirkt alles sehr verwirrend und unüberschaubar aber dir gelingt es, das Ganze zu entwirren, einzuordnen und Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen. Das hilft mir sehr.

    Gefällt 1 Person

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