Ja, aber…

Wie angekündigt teile ich hier noch einen Teil des Interviews, das die Tessiner Zeitung «Corriere del Ticino» mit mir gemacht hat. Nur ist dieser Text natürlich längst veraltet, er ist ja schon zwei Tage alt. Im gleichen Aufwasch deshalb noch ein Update von heute, Boliviens Tag 1 nach der Flucht von Evo Morales nach Mexiko, der Einsetzung der neuen Staatspräsidentin Jeanine Añez und der Aufhebung der Strassenblockaden in Santa Cruz.

Bis zum Rücktritt von Evo Morales haben die politische Opposition sowie verschiedene soziale Bewegungen fast drei Wochen lang protestiert – seit dem Rücktritt protestieren nun seine Anhänger_innen, und die Gewaltbereitschaft auf allen Seiten steigt konstant an. In den letzten Tagen sind Dynamitpatronen explodiert, Häuser angezündet, Märkte geplündert und Menschen auf der Strasse mit Schlagstöcken und sogar mit Schusswaffen angegriffen worden – es gab mehrere Tote. Die Situation auf den Strassen hat sich verselbständigt. Die verschiedenen Gruppen steigern sich in ihre Wut, in ihre Empörung und auch in alte, erneut aufflammende Ressentiments hinein und lassen sich zu Aktionen hinreissen, die von den politischen «Köpfen», in deren Namen sie handeln, weder gefordert noch beabsichtigt wurden. Dazu kommt, dass viele der vor allem jungen Leute, die protestieren, sich mit keiner politischen Partei oder zivilen Organisation identifizieren, sondern einfach «im Namen der Demokratie» ihre Bürgerrechte verteidigen wollen. Das Agieren in Massen, wie es in den letzten Wochen zu sehen war, hat dazu geführt, dass die Menschen sich stark fühlen und keine Angst mehr haben – auch weil sie davon überzeugt sind, dass sie im Recht sind und nur zum Besten des Landes handeln, während die «anderen» verblendet oder verlogen sind.

Sirenen, Schüsse und Militärhelikopter

Die letzten Tage waren extrem intensiv, vor allem in La Paz und in Cochabamba. Die Aggressivität einiger Gruppen, die Evo Morales zurück ins Amt holen wollen, lief so aus dem Ruder, dass die Polizei das Militär um Hilfe bat, weil die Situation ihrer Kontrolle entglitt. Es gab Organisation, die ihren Mitarbeitenden empfohlen haben, nicht nur zu Hause zu bleiben, sondern auch die Fenster abzudecken, das Licht auszuschalten und sich in Räumen aufzuhalten, die nicht direkt an der Strasse liegen. In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch waren an vielen Orten Sirenen und Schüsse zu hören gewesen, mit grosser Militär- und Polizeipräsenz auf den Strassen und Militär-Helikoptern in der Luft. In meinem Quartier war es vergleichsweise ruhig gewesen, doch viele meiner Freund_innen, vor allem in La Paz und Cochabamba, haben es langsam wirklich mit der Angst zu tun bekommen. In beiden Städten ist die Lage bis jetzt angespannt, und man geht auf Grund von entsprechenden Ankündigungen davon aus, dass grosse Protestmärsche der Morales-Anhänger in den nächsten Tagen durch die Strassen ziehen – wie das aussieht, kann man sich leider vorstellen. Dass Evo Morales heute aus Mexiko verlauten liess, er sei bereit, zurückzukommen, wenn das Volk dies wolle, ist für die Befriedung des Landes in diesem Zusammenhang kontraproduktiv und löst wieder sehr viele Fragezeichen aus. Auch heute sind in in El Alto wieder Gruppen durch die Strassen gezogen, die «Bürgerkrieg, jetzt!» gerufen haben.  An vielen Orten haben die Menschen sich selbst organisiert und mit Stöcken bewaffnet, um gegen diese vorzugehen, falls sie bis in ihre Quartiere kommen. Doch die meisten wollen nur noch eins: Frieden und Rückkehr zur Normalität.

Bibel vs Wiphala
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Einzug ins Amt mit einer riesigen Bibel…

Mit der Einsetzung von Jeanine Añez, der ehemaligen Vizepräsidentin des bolivianischen Senats als Interims-Präsidentin gestern (Dienstag) Abend hat sich die Lage an vielen Orten schlagartig entspannt. In Santa Cruz sind um Mitternacht alle Strassenblockaden aufgelöst worden (nachdem sich ganze 21 Tag lang «kein Stein bewegt hat»),  und ab heute wird versucht, zum Alltag zurückzukehren. Doch wie bei fast allem, was in diesem Konflikt passiert ist, muss man sagen: Ja, aber…

Gut, dass das Präsidentenamt nun besetzt ist. Aber – Aber Nummer 1: Da die Vertreter_innen von Evo Morales‘ Partei MAS bei der Versammlung nicht anwesend waren (es wird darüber gestritten, ob sie sie boykottiert haben oder ob sie ausgeschlossen wurden), hat das Parlament nicht über das erforderliche Quorum bzw. die Mehrheit verfügt, um eine solche Entscheidung treffen zu können. Die Einsetzung von Añez erfolgte dann durch einen Beschluss durch das Verfassungsgericht. Dies bietet den Kritiker_innen eine Grundlage dafür, um die Legalität von Añez anzuerkennen – Evo Morales und auch verschiedenste Stimmen im In- und Ausland sprechen davon, dass sie sich illegal selbst ernannt habe.

Aber Nummer 2: Es scheint, als ob Añez bis zu einem gewissen Grad den selben Diskurs führt wie Fernando Camacho – auch sie ist demonstrativ mit einer riesigen Bibel in der Hand in den Präsidentenpalast eingezogen und hat gesagt: «Dank Gott zieht nun die Bibel wieder ein im Präsidentenpalast.» Dies ist in einem säkularen Staat eigenartig und unangebracht, doch das Ganze hat eine noch viel tiefgründigere Komponente: Mit Evo Morales ist ein Präsident abgetreten, der sich für die Rechte der indigenen Bevölkerung im Hochland eingesetzt hat. Er hat zum Beispiel die Wiphala als Symbol der Plurinationalität des Staates zur zweiten offiziellen Flagge Boliviens gemacht, was eine enorme Bedeutung hatte, weil dadurch sichtbar wurde, dass die indigene Bevölkerung einen wichtigen Teil der Identität des Landes darstellt (siehe dazu mein letzter Blogeintrag). Dass nun einige Personen die Wiphala öffentlich verbrannt und eine Gruppe von Polizist/innen sich diese demonstrativ aus der Uniform geschnitten haben, während parallel dazu ein zutiefst katholischer Diskurs von denjenigen geführt wird, die gerade die Macht im Land übernehmen, fühlt sich wie ein grauenhafter Rückschritt in koloniale Zeiten an. Kommt dazu, dass Stimmen laut werden, die Añez als alte Rassistin bezeichnen – es kursieren entsprechende Zitate von ihr, von denen man wieder nicht weiss, ob sie echt sind. Das Verbrennen der Wiphala wurde zwar in den Sozialen Netzwerken von vielen Bolivianer_innen – und zwar aus Hoch- und Tiefland – sofort aufs heftigste verurteilt, es gab Protestmärsche eine ganze Reihe von Texten zur Rehabilitierung der indigenen Flagge, und sowohl Fernando Camacho als auch Jeanine Añez haben in öffentlichen Videostatements ihren Respekt vor der Wihpala bekundet und versichert, dass diese auch in Zukunft zu Bolivien gehören wird. Ja, aber… Vor ein paar Jahren hat das noch ganz anders geklungen:

 

 

Das Problem ist, dass die und rassistischen Äusserungen und Aktionen – egal ob sie von einer Minderheit oder von einer Mehrheit getragen werden – ein riesiges Medienecho auslösen, zum Beispiel auch im benachbarten Peru, wo sich viele Aymara- und Quechua-Indigene stark mit Evo Morales identifizieren. Es geht ein Aufschrei durch die indigene Gesellschaft, dass durch die Vertreibung von Morales und die Einsetzung von weissen Katholik_innen Unterdrückung und Rassismus wieder in alter Heftigkeit ins Land zurückkehren. Dieser Aufschrei ist vollkommen verständlich und auch berechtigt – und leider muss man die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass sich die allgemeine Stimmung tatsächlich wieder mehr in diese Richtung bewegen könnte. Wenn an einer öffentlichen Veranstaltung zur Feier der Einsetzung von Añez ein Pfarrer mit der riesigen Menschenmasse ein Ritual zur Satansaustreibung durchführt und ins Mikrophon schreit: «Weiche aus Bolivien, Satan!», wird mir unheimlich zu Mute. Hier geht es um viel mehr als nur darum, dass jede_r das Recht auf seinen Glauben und seine Religion hat. Der «Sieg» wird von verschiedener Seite immer wieder als Werk Gottes dargestellt, der das Volk dabei unterstützt hat, den «Tyrannen», den «Diktator» und den «Mörder» Morales bei Seite zu schaffen. Auch wenn einiges falsch gelaufen ist in Morales‘ Amtszeit – dies ist nur noch Aufhetzerei und kann richtig gefährlich werden.

Ich bin nicht sicher, wie bewusst sich Camacho, Añez & Co. sind, was sie mit ihrem Bibel-Diskurs auslösen – aber genau das ist vielleicht das Problem. Sie ignorieren eine zentrale Realität und Problematik, die die bolivianische Gesellschaft spaltet, auch wenn sie von Einheit reden und das wahrscheinlich (zumindest theoretisch) auch ernst meinen. Doch was würde Einheit und Miteinbezug aller tatsächlich bedeuten? – Dafür müssten zu einem ernsthaften, tiefgründigen Dialog aufgerufen werden, und zwar nicht nur zwischen den verschiedenen politischen Parteien, sondern zwischen den unzähligen sozialen Organisationen des Landes – einem Dialog, in welchem die Bedürfnisse aller ernst genommen und grundlegende Vorurteile, Haltungen und Emotionen offen angesprochen werden.

Was sicher ist, ist dass dieser Konflikt alles andere als vorbei ist. Mag sein, dass er eine Zeitlang im Untergrund vor sich hin brodeln wird – doch eher früher als später kommt dieser Vulkan wieder zum Ausbruch.

 

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Eine der ersten Amtshandlungen der neuen Präsidentin: die Neubesetzung der obersten Posten des Militärs.

2 Kommentare

  1. Ups, das tönt alles sehr reaktionär, wie sich diese neue Frau als Interimspräsidentin inszeniert. ‚Katholikal‘ würde ich sagen. Ein Beispiel weiblicher Mittäterinschaft an einem klerikalen und patriarchalen System. Schadenur, dass die Emanzipationsbewegungen der Indigenen somit drohen zurückgedrängt zu werden. !Que pena!

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