Die Lage ist Ernst. Das habe ich in den letzten Tagen immer wieder gehört. Von Medien, von Politiker_innen, von Freund_innen und Bekannten. Von letzteren insbesondere als Reaktion auf meinen Aufruf, bitte trotz allem nicht in übertriebene und irrationale Panik zu verfallen. Ich sage es gerne noch einmal: Weder verleugne noch verharmlose ich die aktuelle Situation, zumindest ist dies nicht meine Absicht. Ich habe zum Beispiel grosses Verständnis für jede_n, der Angst hat, nahestehende Menschen zu verlieren – wer könnte dafür mehr Verständnis haben als ich?! Oder für die, die sich Sorgen machen, weil das Gesundheitssystem kollabiert und die Chance, dass man an X etwas stirbt, im Moment erheblich grösser ist als sonst. Für die, die darüber nachdenken, ob sie es noch verantworten können, ihre betagten Eltern zu besuchen. Und für viele, viele mehr. Aber nicht für alle und nicht für alles.
Was mir Angst macht, sind die politischen, vor allem aber die gesellschaftlichen Prozesse, die sich zurzeit weltweit verselbständigen und explosionsartig vieles ans Tageslicht bringen, was bisher halblatent in den Köpfen und Seelen der Menschen gegärt hat.
Die Lage ist Ernst. Doch nicht, weil Menschen krank werden und sterben. Sondern weil zum ersten Mal seit langer, langer Zeit Menschen in der so genannten Ersten Welt krank werden und sterben.
Die Bevölkerung des Globalen Nordens befindet sich im Schockzustand. Das Gefühl von Abgesichertsein, das für viele Menschen im «fortschrittlichen», «modernen», «zivilisierten» Teil der Welt seit langem so selbstverständlich ist, dass sie sich dessen bis vor kurzem nicht einmal bewusst waren, wurde in seinen Grundfesten erschüttert.
Würden die europäischen Medien auch darüber berichten, dass in Asien und Lateinamerika seit 2019 eine Dengue-Epidemie grassiert, die mit mindestens dreieinhalb Millionen Erkrankten jedes bisherige Ausmass übersteigt und ebenfalls schon tausende von Todesopfern gefordert hat, würde man dies zwar sicher «schlimm» finden, doch wundern würde man sich nicht. Schliesslich ist es hinlänglich bekannt, dass das Gesundheitssystem in Entwicklungsländern schlecht ist und dass viele Menschen dort aus wirtschaftlichen oder anderen Gründen keinen Zugang zu adäquater Behandlung haben, weil eben: «Dritte Welt».
Aber dass hier bei uns, dass in der Schweiz, in Deutschland, dass in Italien… Das ist ein Schock. Das zieht den Menschen den Boden unter den Füssen weg. Dass unsere ganze Wissenschaft, unsere Technik, unser Fortschritt… Dass unser Geld!! Dass wir, Modell für die ganze Welt, die wir den anderen seit Jahrzehnten erklären, wie man es besser macht… Dass die Gefahr plötzlich mitten in unseren Parks, in unseren Schulen, in unseren Zügen und Bussen…
Das löst Fassungslosigkeit aus: dass wir den Virus weder von heute auf morgen austilgen noch ihn abschieben oder mit Grenzmauern aufhalten können.
Wir sind mit der festen Überzeugung aufgewachsen, dass Wissenschaft und Technik die Natur kontrollieren und von uns fernhalten können, wenn uns durch sie Gefahr droht. Und jetzt merken wir plötzlich, wie fragil der Fortschritt ist. Dass dies zu Panik führt, ist klar. Nur sind sich viele Menschen wahrscheinlich nicht bewusst, was der eigentliche Grund für ihre Panik ist – und dies macht sie diffus und unbenennbar, führt zu einem allgemeinen Gefühl von Ohnmacht und Verzweiflung, dem nicht beizukommen ist, weil man es nicht fassen kann.
Und das ist noch nicht alles: Ebenfalls zum ersten Mal seit langer, langer Zeit erlebt die Bevölkerung der Ersten Welt, was es heisst, nicht immer alles machen und nicht immer alles haben zu können, was man gerade will. Seit Corona gibt es Dinge, die man nicht mehr kaufen kann, und zwar ausgerechnet Dinge, von denen man glaubt, dass sie für die eigene Gesundheit oder sogar fürs eigene Überleben von existenzieller Bedeutung sind (Masken, Desinfektionsmittel, Klopapier). Persönliche Freiheiten sind eingeschränkt. Verfassungsmässig garantierte Rechte sind aufgehoben. Es besteht die Gefahr, dass man krank wird und keinen Zugang zu einer kostenlosen und angemessenen Behandlung hat – vor allem wenn man an etwas anderem erkrankt als an dem Virus oder einen Unfall hat, denn nun ist alles zweitrangig, was nicht mit der Pandemie zu tun hat. An dieser Stelle könnte dem einen oder der anderen bewusst werden, dass stetige Kürzungen im Gesundheitssystem… Dass die Arbeitsbedingungen von Krankenpfleger_innen… Dass man sich ein bisschen verrechnet hat.
Der Globale Norden ist im Schockzustand, denn seine (mittlerweile erfolgreich in die ganze Welt exportierten) Strategien sind nicht aufgegangen. Seine Werte haben sich als untauglich erwiesen, um auf ihnen ein stabiles System aufzubauen. Jahrzehntelang hat man in eine Richtung politisiert und gewirtschaftet, die sich nun als Sackgasse entpuppt. Doch dies zuzugeben, würde einen tiefen und sehr schmerzhaften Reflexionsprozess verlangen, für den im Moment die Ruhe und der Mut fehlt.
Und nicht nur die Zerbrechlichkeit des globalen Systems kommt nun schlagartig ans Licht, sondern auch die Zerbrechlichkeit der Menschen, die sich in diesem System sicher gefühlt haben. Plötzlich kommen Fragen auf, die man sich noch nie gestellt hat: Was bedeutet es, ein gutes Leben zu haben? Ist der Weg zum Glück tatsächlich mit Geld, Besitz und Status gepflastert? Hilft uns die Tabuisierung des Todes wirklich dabei, einen natürlichen, angstfreien Umgang mit ihm zu finden? Ist ein ausgefülltes Leben mit exzessivem äusserlichem Beschäftigtsein wirklich identisch mit einem erfüllten Leben? Können wir unser Sicherheitsbedürfnis tatsächlich mit Versicherungen befriedigen, oder gibt es Formen innerer Stabilität, die schwieriger zu erlangen sind als mit einer Unterschrift und einer Zahlung? Was sagt es über unser Bildungssystem, über unsere Medien, über unausgesprochene gesellschaftliche Verhaltensstandards und über unsere Spiritualität aus, wenn Länder wie die Schweiz auf Ausgangssperren verzichten, weil sie sich um die mentale Gesundheit ihrer Bürger_innen sorgen, die es trotz Zugang zu Internet, Telefon, Fernseher, ausreichend Nahrung und finanziellen Ressourcen psychisch nicht aushalten könnten, zwei Wochen allein oder mit ihrer Familie zu Hause zu verbringen?
Achtung: Es geht hier nicht darum zu sagen, «Macht nicht so ein Theater, an anderen Orten passieren noch viel schlimmere Dinge.» Sonst würde ich hier ganz andere Fälle zum Vergleich anführen (mache ich auf Anfrage gerne). Es geht nicht darum, zu sagen, «Ätschipätsch, jetzt ist der Globale Norden auch mal dran, jetzt wisst ihr auch mal, wie es sich anfühlt.» Es geht darum, so kaltblütig wie möglich zu analysieren, was der Grund für die Panik ist, von der zurzeit weltweit wohl tausend Mal mehr Menschen betroffen sind als von der Pandemie. Jene Panik, die ich nicht nur für irrational und unverhältnismässig halte, sondern auch für brandgefährlich, weil sie gravierende Konsequenzen hat und weltweit grossen Schaden anrichtet.
Es tauchen immer mehr Stimmen und Zahlen auf, die zeigen: Auch Grippewellen führen jährlich zu Hunderttausenden von Toten weltweit. Doch hat es während einer Grippewelle schon einmal Hamsterkäufe gegeben? Menschen, die sich um die letzte Packung Klopapier prügeln? Ausgangssperren, Schulschliessungen?
Ich will damit nicht sagen, «Ist doch egal, dass tausende von Menschen an Corona sterben, wenn das doch jedes Jahr passiert.» Ich versuche nur zu begreifen, warum Corona einerseits Panik in der Bevölkerung auslöst und anderseits Regierungen weltweit dazu bringt, alles lahmzulegen.
All die Fragen, die sich die Menschen jetzt stellen, wie ob sie noch mit den Kindern auf den Spielplatz können oder ohne Maske in den Supermarkt, ob sie sich oder andere in Gefahr bringen, wenn sie im Wald spazieren gehen, ob sie ihre Grosseltern noch umarmen dürfen – all diese Fragen und viele mehr sind vollkommen und total berechtigt, nur: Warum, warum stellen sie sich erst jetzt und nur in Bezug auf den Virus, warum tun sich plötzlich derartige Abgründe auf und erschüttern Grundpfeiler des gesunden Menschenverstandes, wenn sich diese Fragen vorher nie jemand gestellt hat, obwohl sie zum Beispiel im Grippefall genau so vollkommen und genau so total berechtigt gewesen wären? Was hat die Wahrnehmung der Menschen von einem Tag auf den andern zum Kippen gebracht, woher kommt diese plötzliche Angst, wer hat sie ins Leben gerufen und wozu, wer schürt sie und warum?
Ausser dem eingangs diagnostizierten Schockzustand des Globalen Nordens, der Menschen dazu veranlasst, blind um sich zu schlagen, sehe ich vor allem zwei grosse Panik-Promotoren: die Medien und die Politik. Es stimmt zwar, dass die mediale Berichterstattung inhaltlich ziemlich sanft ist. Es werden keine Science-Fiction-Schreckensszenarien gezeichnet, aber: Die Omnipräsenz DES VIRUS in fast allen Medien vermittelt den Eindruck, dass es sich bei dieser Angelegenheit um etwas dermassen Bedrohliches handelt, dass praktisch kein anderes Thema mehr Bedeutung hat. Ja, es wird «nur informiert», aber wenn so lückenlos, so akribisch, so feinmaschig über etwas informiert wird wie nun über Corona, suggeriert dies, dass es von unausweichlicher, lebensnotwendiger Wichtigkeit ist, dass die Bevölkerung genau über diese lückenlosen, akribischen und feinmaschigen Informationen verfügt. Und dies löst früher oder später den mentalen Alarmknopf in jedem Kopf aus. Wenn wir stündlich über den Virus upgedated werden, dann muss es schlimm sein, dann muss es krass sein, ja, dann kann man eigentlich gar nicht genug Angst haben.
Und wenn dann noch Regierungen auf der ganzen Welt sich gegenseitig mit der Strenge ihrer Massnahmen überbieten (denn sonst könnte man ihnen später vorwerfen, sie hätten nicht genug getan), gibt es definitiv keinen Zweifel mehr: Die Lage ist so Ernst, wie sie noch nie war. Seit dem Krieg. Und eigentlich IST es ein Krieg.
Ja, ich weiss: Die Regierungen sind nun in der unangenehmen Situation, relativ schnell Entscheidungen treffen zu müssen, auch auf die Gefahr hin, dass sie sich im Nachhinein als falsch herausstellen könnten. Denn es sind einfach nicht genügend Informationen oder Erfahrungswerte vorhanden, um eine zuverlässige Einschätzung vorzunehmen. Ganz ehrlich: Weiss irgend jemand mit Sicherheit, welche Analysen und welche Zahlen nun stimmen? Welche Szenarien realistisch sind? Welche Massnahmen angemessen? Natürlich nicht. Also wird auf Grund von bestimmten Kriterien entschieden, und zwar im allgemeinen sehr radikal. Es gibt immer mehr Analysen, die zum Schluss kommen, dass durch totale Abschottung die Ausbreitung des Virus nicht gestoppt, sondern nur verlangsamt wird – die Krise dauert dann einfach viel länger, was natürlich ganz viele Nachteile hätte, aber zum Beispiel auch den Vorteil, dass mehr Menschen behandelt werden können (und eventuell weniger sterben), weil nicht alle gleichzeitig krank werden. Abzuwägen, was schlimmer ist, ist nicht einfach, vor allem weil man nicht weiss, ob sich das Szenario dann wirklich so entwickelt wie vermutet. Und schliesslich: Es könnte ja auch sein, dass der Virus plötzlich mutiert? Dass dann doch Science-Fiction…
Ja, ich bin dafür, dass man sich an die Ausgangssperren hält – in Peru bleibt mir eh nichts anderes übrig, weil ich sonst verhaftet werde –, denn die aktuellen Massnahmen haben einen (nicht nur monetär) enormen Preis, und es wäre schön, wenn sie so bald wie möglich wieder aufgehoben werden könnten. Und dies funktioniert nur, wenn alle mitmachen. Ob Lockdown und Social Distancing dann wirklich längerfristig zum Erfolg führen, wird sich zeigen – ich bin skeptisch. Aber vielleicht, vielleicht führt das alles ja doch dazu, dass sich irgend etwas ändert. In den Köpfen der Menschen. Denn da entscheidet sich, wie weitreichende Konsequenzen ein Fall wie Corona hat. In den Köpfen der Menschen, nicht auf der Intensivstation in Bergamo…
> Zur spanischen Version des Textes <
Danke Nicole! Hammer!
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Danke dir!! Freut mi ganz bsunders dass das au us dinere Perspektive Sinn macht 🙂 Liebs Grüessli us Puno…
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Unter den vielen zuletzt gelesenen Artikeln und Betrachtungen zu der aktuellen Situation, haben mich und meine Frau Deine Zeilen, liebe Nicole, ganz besonders angesprochen.
Mit den Augen sehen wir, aus dem Fenster blickend, gerade von der Ausgangssperre betroffene Menschen in Honduras und eine Stadt Tegucigalpa, die (noch) still steht. Und daneben auf dem Tablet sich überschlagende Nachrichten aus Europa.
Alle Aktionen und alles Bemühen, der Pandemie durch Abstand und Unterbrechung der Infektionslinien zu begegnen, befürworten wir, jedoch nicht die vermeintlich jedes Mass und jeden Rahmen sprengende mediale Informationsflut dazu. Vor allem das, so können wir hören, macht hier den Menschen Panik!
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Vielen herzlichen Dank für diesen Kommentar! Es freut mich sehr dass eure Erfahrungen meine Meinung bestätigen… Es gäbe noch viel mehr zum Thema zu sagen, leider nur wenig positives. Ich sende euch herzliche Grüsse und alles Gute in dieser verrückten Zeit!! – Nicole – – – PS. Es gibt nun auch eine spanische Version des Textes, falls ihr ihn teilen möchtet 🙂 https://maron.ch/el-virus-no-necesita-visa/ – – – PPS Bist du mit David Rampf verwandt? 🙂 – Du kannst mir auch privat schreiben an nicole@maron.ch
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