Peru ist nicht gleich Lima

In Peru sind bisher verhältnismässig wenig Fälle von Coronavirus bestätigt worden, doch die Regierung verschärft die Massnahmen zur Eindämmung laufend. Für wirtschaftlich und sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen wird dies zunehmend existenzbedrohend.

Keine Frage: Auch Peru steckt voll in der Corona-Krise. Bis am Tag 32 nach der Identifizierung des ersten Falls wurden mehr als 2500 Menschen positiv getestet, 997 davon werden als geheilt klassifiziert, und 92 starben (Stand 6. April).

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Die peruanische Regierung unter Martín Vizcarra hat ziemlich schnell relativ strikte Massnahmen verhängt: Seit dem 16. März und bis mindestens am 12. April befindet sich das ganze Land in obligatorischer Quarantäne. Der öffentliche und private Verkehr wurde eingestellt, Schulen, Geschäfte, Restaurants und die meisten anderen öffentlichen Einrichtungen bleiben geschlossen. Das Haus verlassen darf nur, wer zum Einkaufen, zum Arzt oder zur Bank gehen muss – jeweils eine Person pro Haushalt und nur von fünf Uhr morgens bis sechs Uhr abends. Wer sich ausserhalb dieser Zeiten oder ohne echte Notwendigkeit draussen aufhält, wird festgenommen und für maximal vier Stunden festgehalten – bis Ende März wurden 33’000 Festnahmen landesweit gezählt, also rund 1200 pro Tag.

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Strikte Polizeikontrollen und steigende Preise
Die Strassen, Plätze und Märkte von Puno werden von Polizei- und Militärpatrouillen kontrolliert, auf den Landstrassen ausserhalb der Stadt sind teilweise sogar Panzerfahrzeuge unterwegs. Auf dem Weg zum Markt werde ich ungefähr alle 500 Meter aufgefordert, meinen Ausweis vorzuzeigen, und befragt man mich zu meinem Aufenthaltsstatus, meiner beruflichen Tätigkeit sowie dem Grund, warum ich draussen unterwegs bin. Obwohl dies von Seiten der Regierung nie so kommuniziert wurde, bin ich mehrfach darauf aufmerksam gemacht worden, dass Maskenpflicht bestehe und dass man nur an bestimmten Tagen aus dem Haus dürfe, abzulesen sei dies an der Endziffer der Ausweisnummer. Es bestand tagelang kein Konsens darüber, ob es sich dabei um eine offizielle Verordnungen handelt oder nicht – inzwischen gilt jedoch die Regel, dass Männer am Montag, Mittwoch und Freitag nach draussen dürfen und Frauen am Dienstag, Donnerstag und Samstag. Damit sind wir eindeutig besser dran als die Bevölkerung im Nachbarland Bolivien, wo tatsächlich nach Ausweisnummer verfahren wird und sich jede_r nur an einem Tag pro Woche in einem Zeitraum von fünf Stunden draussen aufhalten darf – dies reicht oft nicht einmal, um die stundenlangen Schlagen vor den Supermärkten zu überwinden und rechtzeitig wieder zu Hause zu sein. Wer es nicht schafft, wird mit 1000 Bolivianos (150 Franken) gebüsst und bis zu acht Stunden festgehalten.

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In vielen Ländern Lateinamerikas gewinnen die staatlichen Sicherheitskräfte an Macht, und es stellt sich die Frage, ob die Corona-Krise in diesem Zusammenhang für viele Regierungen nicht ein willkommener Anlass ist, Kontroll- und Überwachungsinstrumente auszubauen. In Peru ist ein Gesetz in Kraft getreten, welches Polizist_innen strafrechtlich schützen soll, wenn sie zur Aufrechterhaltung der Ausgangssperre Gewalt anwenden und Personen verletzen oder gar töten. Die UNO befürchtet, dass dieses Gesetz benutzt werden könnte, um auch bei unnötiger oder unverhältnismässiger Anwendung von Gewalt Straffreiheit zu erwirken, und ruft das peruanische Parlament dazu auf, die Implementierung dieses Gesetzes zu überdenken, weil damit internationale Menschenrechtsstandards verletzt würden. Beunruhigung löst die Einführung dieses Gesetzes vor allem auch deshalb aus, weil vielen die Erinnerung daran, was eine derartige Machterweiterung der Sicherheitskräfte bedeuten kann, aus der Zeit des Bürgerkriegs noch höchst lebendig vor Augen steht.

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Geschlossene Märkte und reduzierte Mobilität
Doch die nationalen Verordnungen sind eins, die lokalen Auswirkungen etwas ganz anderes. «Die Regierung sieht nur die Realität in Lima», sagt José (alle Namen geändert) der die Quarantäne bei seiner Familie in einer Quechua-Gemeinde im Distrikt Arapa, 90 Kilometer nördlich von Puno, verbringt. «In der Hauptstadt ist es vielleicht möglich, die Lebensmittelpreise stabil zu halten, aber auf den lokalen Märkten hier werden Gemüse und Obst zunehmend teurer.» Dies ist in gewissen Fällen verständlich, nämlich wenn die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, die ihre Produkte auf dem Markt verkaufen, keine andere Einkommensquelle haben, und auf Grund der Krise ein Grossteil ihrer Kundschaft wegbleibt. Um von dem Wenigen, das sie verkaufen, dennoch ihre Familie ernähren zu können, müssen sie die Preise oder die Mindestkaufmenge erhöhen. «Karotten zum Beispiel kann man hier nur noch pro Kilo kaufen», sagt José, «nicht mehr wie früher pro Pfund oder Halbpfund.»

Doch das Ansteigen der Preise ist gleichzeitig auch einer der Gründe, warum viele Menschen nur noch das Allernotwendigste kaufen – und Obst und Gemüse gehören nicht dazu –, denn auch ihnen fehlt das Einkommen. «Bei uns in der Region kommt dazu, dass es sehr kompliziert geworden ist, aus den Gemeinden überhaupt zum Markt in Arapa oder Azángaro zu kommen», erklärt José. «Öffentliche Kleinbusse gibt es auf Grund der Restriktionen nur noch zwei Mal pro Woche, und wer mit dem eigenen Fahrzeug unterwegs ist, muss die Polizei- und Militärkontrollen passieren, was für viele ein Problem ist, da ihre Fahrzeugpapiere nicht aktuell sind.» In Puno selber wurde der gesamte öffentliche und private Verkehr eingestellt, Autos und Motorräder können nur noch in Ausnahmefällen und mit Sonderbewilligung zirkulieren. Auch der Verkehr zwischen den Städten, Dörfern und Departementen ist praktisch lahmgelegt – grosse Lebensmitteltransporte können zwar passieren, doch Kleinbäuerinnen und Kleinbauern können mit ihren Waren vielerorts nicht mehr zu den Märkten gelangen.

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Faktisch wird es also in den ländlichen Gebieten immer schwieriger, sich mit Nahrungsmitteln einzudecken, und die Menschen ernähren sich von dem, was sie selber anbauen: Kartoffeln, Chuño (gefriergetrocknete Kartoffeln) oder Bohnen. «Zum Glück ist gerade Erntezeit, doch wenn die Quarantänemassnahmen noch weiter verlängert werden sollten, wird die Versorgungssituation auch hier langsam prekär», so José. In Yunguyo (130 Kilometer südöstlich von Puno) wurde der traditionelle Sonntagsmarkt sogar ganz geschlossen, weil dort normalerweise viele Verkäufer_innen aus dem nahe gelegenen Bolivien präsent sind. Da im nur 10 Kilometer entfernten Grenzort Copacabana Corona-Fälle aufgetreten sind, befürchtet man, dass der Virus trotz geschlossener Grenze auf diese Weise in die Region Puno gelangen könnte, in der bisher noch kein einziger Fall von Covid19 aufgetreten ist.

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Fehlende Unterstützung der ländlichen Bevölkerung
Ein Grossteil der Bevölkerung in der Region Puno – genauso wie in den meisten anderen Regionen Perus – ist im informellen Sektor tätig und lebt von den Tageseinnahmen, die nun für die meisten wegfallen. Die Regierung will zwar bedürftige Familien mit einer Sonderrente unterstützen, doch die Kriterien sind intransparent und die Ermittlung der Begünstigten teilweise nicht nachvollziehbar. Laut offiziellen Angaben werden für den ersten Quarantänemonat je 760 Soles (215 Franken) an 3’500’000 Haushalte ausbezahlt. Dies kommt allerdings nur der Stadtbevölkerung zu Gute, weil diese im Gegensatz zur Landbevölkerung Miete zahlen müsse und keine eigenen Nahrungsmittel anbauen könne. Wenn man bedenkt, dass laut dem nationalen Amt für Statistik INEI 14 Prozent der Stadtbevölkerung von Armut und 0.8 von extremer Armut betroffen sind, während der Prozentsatz bei der Landbevölkerung bei 44 bzw. 10 Prozent liegt, stellt sich die Frage, ob tatsächlich alle Menschen, deren Existenz von den Massnahmen rund um Covid19 bedroht wird, genügend Unterstützung erhalten. Zusätzlich zur Sonderrente wurden 213 Millionen Soles (60 Millionen Franken) an die Gemeindeverwaltungen überwiesen, um Pakete mit Grundnahrungsmitteln an die Bevölkerung abzugeben. Wie ich von Mitgliedern ländlicher Gemeinden in Juli und Yunguyo gehört habe, läuft die Verteilung dieser Pakete allerdings nicht gerecht ab. Es ist die Rede von Korruption und Bevorteilung, da die Verantwortung auf Grund der Autonomie der politischen Gemeinden bei den Bürgermeister/innen liegt.

Und auch bezüglich Bildung scheint die Regierung bei ihren Entscheidungen nur die Realität Limas vor Augen zu haben: Die Schulen sollen erst im Mai wieder geöffnet werden, bis zu diesem Zeitpunkt soll der Unterricht online stattfinden. Mit dieser Massnahme werden die Kinder, die nicht in der Metropole an der Küste leben, vollkommen links liegen gelassen. In Puno und vielen anderen Departementen Perus kann weder bei der Stadt- noch bei der Landbevölkerung davon ausgegangen werden, dass sie über Internetzugang und Computer verfügen, die nötig wären, um dem Unterricht online folgen zu können. Es sieht leider so aus, als ob die Entscheidungsträger_innen immer erst auf solche Überlegungen aufmerksam gemacht werden müssten, um sie in Betracht zu ziehen – um dann im Nachhinein «korrigierende Massnahmen» zu ergreifen. In diesem Fall die völlig unrealistische Lösung, den Kindern ohne Internetzugang die Aufgaben physisch zukommen zu lassen. In der Schweiz wäre dies natürlich denkbar, aber Peru verfügt über kein zuverlässiges postales System – schon gar nicht im ländlichen Raum.

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Kriminalisierung der Strassenverkäufer/innen
Doch Not macht auch erfinderisch: Die jungen Eheleute Alvaro und Maria sind, wie viele andere auch, dazu übergegangen, in den Strassen von Puno selbstgenähte Masken zu verkaufen. Alvaro ist Taxifahrer und gehört damit einer der Branchen an, deren Verdienst vom einen auf den anderen Tag vollkommen zusammengebrochen ist. «Wir haben zwei kleine Kinder und mussten uns auf die Schnelle überlegen, was wir tun können, um zumindest die minimalsten Lebenskosten decken zu können», sagt Maria. «Mit dem Maskenverkauf nehmen wir zurzeit maximal 20 Soles pro Tag ein.» Der gesetzlich definierte Mindestlohn in Peru liegt zurzeit bei 30 Soles pro Tag (8,50 Franken), hätte aber dieses Jahr erhöht werden sollen – eine Entscheidung, die auf Grund der Krise wohl verschoben wird.

Trotz des entsprechenden Verbots kehren auch immer mehr Strassenhändler_innen auf die Strassen Punos zurück, um mit dem Verkauf von Fruchtsaft, Chicha sowie hausgemachten Tamales oder Empanadas ein kleines Einkommen zu generieren. Vor ein paar Tagen wurde ich Zeugin, wie zwei Polizisten eine ältere Frau abführen wollten, da es verboten sei, ausserhalb der offiziellen Märkten Lebensmittel zu verkaufen. «Das weiss ich», sagte die Frau, «doch wovon soll ich leben, wenn ich nichts verkaufen kann?» Es ist eine Art Teufelskreis, aus dem sich das Land wahrscheinlich erst lang nach der Aufhebung der Corona-Massnahmen befreien wird. Am leisten darunter leiden werden, wie immer, diejenigen Bevölkerungsgruppen, die wirtschaftlich und sozial ohnehin schon benachteiligt sind.

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4 Kommentare

  1. Vielen Dank Nicole für diesen interessanten Einblick in den Alltag in Puno unter diesen Umständen. Besonders beschäftigt mich die Tatsache dass auch wieder hier die die Macht anhäufen und sichern können jede Situation dazu nutzen. Und so natürlich die die am Meisten darunter leiden erneut mehr Leiden müssen/werden.

    Ich hoffe sehr dass Du in dieser Zeit trotzt den Einschränkungen nebst Deinem persönlichem Wohlbefinden auch weiterhin eine Unterstützung für Deine Partnerorganisation und die Menschen die um Dich herum sind sein kannst.
    Mit dem schreiben des Blogs bist Du es auf alle Fälle schon mal. Viel Kraft und Zuversicht. Abrazo Marianne-Sonja

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