Es geht um viel mehr als um Nationalstolz

Am 9. Juli erschien in der peruanischen Online-Zeitung «Expreso» ein Artikel mit dem dramatischen Titel «Sie wollen uns bestehlen: Peru würde die Souveränität von 53% des Amazonasgebiets verlieren». Der Journalist Erick Sánchez Noriega fordert das peruanische Parlament vehement dazu auf, das Abkommen von Escazú nicht zu ratifizieren, welches die unterzeichnenden Länder zu verschiedenen Bestimmungen im Bereich Umweltschutz und Menschenrechte verpflichtet.

Sein Hauptargument ist, dass Peru seine Souveränität verlieren würde und internationale Instanzen Entscheidungen über einen Teil seines Territoriums treffen könnten. Er äussert die Befürchtung, dass das Amazonasgebiet zum Welterbe erklärt und so Bergbau-Aktivitäten blockiert werden könnten, und zwar «zum Vorteil von NGOs sowie linksradikalen Sektoren». Bis zu einem gewissen Punkt ist es verständlich, dass in Peru eine gewisse Allergie gegen Einmischung von aussen herrscht: Die Erinnerung an die Kolonialherrschaft und die Ausbeutung der Region durch europäische Mächte ab dem 16. Jahrhundert ist noch immer eine offene Wunde. Das Problem besteht jedoch darin, dass es heute die Staaten selber sind, welche die Ressourcen ausbeuten, und diejenigen, die darunter leiden, sind in erster Linie indigene Gemeinden – die selben, die auch damals schon Opfer des Kolonialismus waren. Die Logik ist die selbe wie vor 500 Jahren, nur die Machtinhaber sind andere.

Wer sagt, die Nutzniesser_innen des Abkommens von Escazú seien ausländische Umweltorganisationen und bestimmte politische Sektoren, hat den Kern des Problems nicht verstanden: Die Bewahrung von Ökosystemen, welche die Heimat von tausenden von Tier- und Pflanzenarten darstellen, den Wasserkreislauf und die Temperatur des ganzen Planeten regeln, Kohlendioxid in Sauerstoff umwandeln und das Gleichgewicht der Atmosphäre bewahren, dient nicht bestimmten Lebewesen, während sie anderen schadet. Im Gegenteil: Sie hält uns alle am Leben. Bis zu einem gewissen Punkt ist die Notwendigkeit, durch Rohstoffförderung Einnahmen zu generieren, verständlich, doch kann dies für die Regierungen dieser Welt tatsächlich prioritär sein, wenn man bedenkt, dass so Schritt für Schritt der Planet und alles Leben auf ihm zerstört wird?

Es ist wahr, dass der ökologische Fussabdruck der Länder des so gennanten «Globalen Südens» wie Peru signifikant kleiner ist als der von Europa oder den USA, welche die Hauptverantwortung für die Vergiftung und Zerstörung der Erde tragen. Deshalb ist es nichts weiter als scheinheilig, von Peru und anderen lateinamerikanischen Ländern zu verlangen, wirtschaftliche Opfer zu bringen, um die Umwelt zu schützen, wenn der Norden nicht gleichzeitig bereit ist, sich ebenfalls einzuschränken. Wenn man möchte, dass Bergbau-Aktivitäten, Ölförderung und Abholzung eingedämmt werden, kann die europäische und amerikanische Bevölkerung sich nicht weiterhin jedes Jahr ein neues Handy kaufen, grenzenlos in der Weltgeschichte herumfliegen und sich von Produkten aus der industriellen Landwirtschaft ernähren.

Man muss weltweit strikte Gesetzgebungen einführen, um den Verschleiss der Ressourcen zu stoppen, und zwar nicht nur für die Zivilgesellschaft, sondern vor allem auch für die Industrie – Stichwort Konzernverantwortungsinitiative, die im November zur Abstimmung kommt. Wir alle müssen ein Opfer bringen, auch die transnationalen Konzerne und die Staaten. Das Konzept des Nationalstaats – das von Anfang an unnatürlich und erzwungen war, Grenzen konstruiert und Völker geteilt hat –, ist endgültig obsolet geworden. Die Probleme des 21. Jahrhunderts, zum Beispiel die Klimakrise – die mit all den oben genannten Faktoren zusammenhängt – bringen nicht nur das Leben der Menschheit in Gefahr, sondern alles Leben auf der Erde, und können nur gemeinsam angegangen werden. In diesem Sinn ist es eine unweigerliche Notwendigkeit, Abkommen wie das von Escazú zu unterzeichnen – unter der oben genannten Bedingung, dass weltweit Anstrengungen unternommen und nicht wie üblich nur vom Süden Opfer gefordert werden. Hier geht es nicht um politische Angelegenheiten einzelner Staaten, die innerhalb der Landesgrenzen diskutiert werden können. Es geht um etwas viel Grösseres, etwas viel Existenzielleres. Es geht nicht darum, dass einem Staat die Souveränität geraubt werden soll. Sondern uns allen unsere Lebensgrundlage.


> Zur spanischen Version des Textes <

 

2 Kommentare

    • Lieber Markus, ich denke in der Schweiz ist es genau umgekehrt. Die diskriminierten Bevölkerungsgruppen sind die Migrant_innen, nicht die «Indigenen»… Die Logik, die dahintersteht, ist aber die gleiche: Viele Europäer_innen glauben immer noch daran, dass sie zu einer Art Herrenrasse gehören, auch wenn das heute natürlich viel subtiler ausgedrückt und ausgelebt wird.

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