Kolumbus, du lieber Mann

Unerstaunlicherweise fanden viele Schweizer_innen die Mohrenkopf-Debatte unnötig und übertrieben. Ist doch nur ein Wort, ist doch nicht bös gemeint. Hiess halt schon immer so, warum wird plötzlich so ein Theater drum gemacht? Die Tüpflischisser-Linken müssen wieder übertreiben. «Historisch gewachsene Kultur kann nicht einfach nach Laune einiger empörter Extremisten ausradiert werden», meint etwa Benjamin Fischer, SVP-Präsident des Kanton Zürich.

Ja, natürlich ist es nicht bös gemeint, oder besser gesagt: Es ist überhaupt nicht gemeint. Denn die meisten denken nicht eine Sekunde lang darüber nach, was sie da sagen oder was alles mitgemeint sein könnte, wenn sie denn doch mal kurz ein bisschen denken würden. An gewisse Ausdrücke hat man sich halt im Lauf der Jahrzehnte gewöhnt, genauso wie an gewisse Bilder. Oder daran, die maskuline Form in generalisierender Weise für «alle» zu benutzen. Nicht diskriminierend gemeint, nicht ausschliessend, natürlich nicht – aber der Gegenvorschlag, stattdessen einfach die feminine Form zur allgemeingültigen zu erklären, ui nei, der kommt aus einer radikal-feministischen Ecke, mit der man sich erst gar nicht auseinandersetzen muss. Ist halt einfach eine Gewohnheit, hat man schon immer so gemacht, bitte keine Diskussion über Oberflächlichkeiten, wir sind doch deswegen keine Rassisten oder Machos. Und auch keine Nazis, wenn wir die selbe Schriftart verwenden, die Hitlers Propagandablätter oder die Schilder in den Konzentrationslagern geschmückt haben.

Tja, da habe ich leider schlechte Nachrichten: Es gibt praktisch nichts, was unser Denken, unser Weltbild und unsere Haltungen so tiefgreifend prägt wie Worte und Bilder, und zwar in der Regel so subtil und unbewusst, dass wir es nicht merken. Dies bestätigt nicht nur die Sprachwissenschaft, sondern auch jeder PR-Profi und jede Politikerin. Je weniger man sich bewusst ist, welche Geschichte gewisse Worte und Bilder haben, welche Bedeutungen mitschwingen und welche unterschwelligen Botschaften, desto schlimmer, denn man riskiert, dass bei anderen Menschen etwas ankommt, was man so gar nicht sagen wollte. Nicht bös gemeint reicht als Rechtfertigung nicht aus, genauso wenig wie die Einstellung, dass es das Problem der anderen ist, wenn sie einen immer falsch verstehen oder partout in alles etwas hineininterpretieren wollen.

Globi, Kasperli und Kolumbus

Wenn Schweizer Kinder 2020 noch Kasperli- und Globigeschichten hören, die haarsträubend kolonial und rassistisch sind, weil es doch übertrieben wäre, sie zu verbieten, ja, dann prägt das die Denkmodelle und Haltungen dieser Kinder, und zwar so grundlegend, dass sie im späteren Leben kaum mehr hinterfragt, geschweige denn verändert werden können. Kinder sind nicht vorbelastet und saugen alles auf, und natürlich kommt es ihnen ganz normal vor, wenn Globi den «Indianerinnen» gegenüber mit selbstverständlicher Überlegenheit auftritt und ihnen beibringt, wie sie ihr Leben verbessern können. «Welch ein Rückstand hier im Kaff!», heisst es, als Globi sieht, dass die Indianerfrauen ihre Kinder auf dem Rücken tragen. Das ist doch mühsam, «eine grosse Plage». Doch keine Sorge: Hilfsbereit und findig wie der Schweizer Globi ist, schafft er sofort Abhilfe und erfindet einen Kinderwagen, zur Begeisterung der Indianermütter. «Ja, das Globische System ist modern und sehr bequem», so die glorreiche Schlussfolgerung.

Globi

 

Tatsächlich stellt diese Geschichte geradezu exemplarisch dar, was eine koloniale Haltung ist: Die indigene Bevölkerung ist rückständig, und unsere Aufgabe als Europäer_innen ist es, ihnen zu zeigen, wie man es besser macht. Ihnen die Basics eines zivilisierten, modernen Lebens beizubringen, weil wir so nett sind, sie an unserem Fortschritt teilhaben zu lassen. Keine Sekunde lang fragt Globi sich – oder gar die armen Indianerinnen –, warum sie ihre Babys auf dem Rücken tragen. Denn auf den Gedanken, dass diese Nähe für Mutter und Kind das Natürlichste, Beruhigendste und Gesündeste überhaupt ist, kommt der Kolonialherr Globi nicht. Es ist von vornherein klar, dass die Schweizer Art die bessere ist. Und niemand soll behaupten, dass Geschichten wie diese die Haltung der Schweizer Kinder nicht nachhaltig und negativ prägt.

Eine anderes Fundstück ähnlicher Prägung ist das Kinderlied «Ein Mann der sich Kolumbus nannt», welches bis heute auf CDs mit den beliebtesten deutschsprachigen Kinderliedern und auf Kinderkanälen auf YouTube verbreitet wird. Der Text allein wäre schon Grund genug, um das Lied von sämtlichen Playlists zu streichen, doch die Bebilderung durch die Kinderlied-Industrie schlägt dem Fass den Boden aus. Kolumbus und der spanische König erscheinen als liebenswürdige, lächelnde Figuren, die doch nur ein paar neue Länder entdecken wollen. Die Begegnung mit den «Wilden» auf dem neuen Kontinent verläuft voller Harmonie, nur dass diese ein bisschen zag und erschreckt dreinschauen.

 

Nur zur Erinnerung: Der spanische König und der damalige Papst Alexander VI. gaben Kolumbus und anderen «Entdeckern» den Auftrag, die vorgefundenen Territorien einzunehmen, ihre Ressourcen zu plündern und ihre Bewohner_innen zu christianisieren, auch unter Anwendung von Gewalt, da sie wie Tiere seien und keine Seele hätten (siehe Blogbeitrag vom 21. Juli 2019). In den ersten Jahrzehnten der Kolonisierung starben 80 bis 90 Prozent der ursprünglichen Einwohner_innen des heute Nord- und Südamerika genannten Kontinents. Es war der Beginn eins der gewaltsamsten Kapitel der Geschichte – ein Kapitel, das bis heute nicht abgeschlossen ist, auch wenn Völkermord, Ausbeutung und Diskriminierung heute die Deckmäntelchen schöner Worte wie Freihandelsabkommen oder Neoliberalismus tragen.

Natürlich gehört diese blutige Realität nicht in ein Kinderlied. Doch statt die Geschichte auf so unfassbare Weise zu verfälschen, könnte man darüber nachdenken, den Kolonialismus im Verlauf der Schulbildung zu einem angemessenen Zeitpunkt zu thematisieren, und zwar auf ehrliche Weise, die auch Selbstkritik beinhaltet – gerade in der Schweiz, die sich gerne mit dem lächerlichen Argument herausredet, selbst keine offizielle Kolonialmacht gewesen zu sein. Angesichts der historischen Fakten – die einen eigenen Text verdienen – ist dies genauso scheinheilig wie die Behauptung, die Schweiz sei ein neutrales Land – Stichwort Waffenexporte. Die immense Mitverantwortung, die die Schweiz an den grössten Grausamkeiten der Menschheitsgeschichte trägt, zu ignorieren und zu verleugnen, verhindert die Aufarbeitung von Tatsachen, die zu einer Art nationalem Erbtrauma geführt haben, und damit auch die Möglichkeit, es in Zukunft besser zu machen.

Wer im Ernst behauptet, es sei unnötig und übertrieben, über Mohrenköpfe, Kasperlilieder wie dem «Gaggo-Neger» und Kolumbusfantasien zu debattieren, hat nicht verstanden, dass das gesamte globale System des 21. Jahrhunderts auf der Globi-Logik aufbaut, nur dass diese nicht das Geringste mit unschuldigen Kinderversen zu tun hat, sondern die Grundlage für Kriege, Genozide und die Zerstörung unseres Planeten bildet. Und wer findet, ich übertreibe: Im Gegenteil, ich fange gerade erst an.

Quelle von Video und Titelbild ist der YouTube-Kanal «Sing mit mir – Kinderlieder». Das Video wurde am 4.5.2015 veröffentlicht und bisher fast 20 Millionen Mal aufgerufen. 

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