Diesen Sonntag, 6. Juni, findet in Peru der zweite Wahlgang der Präsidentschaftswahlen statt. Seit den heftigen Protesten im November, als der damalige Staatspräsident Martín Vizcarra vom Parlament seines Amtes enthoben wurde, ist die politische Lage im Land angespannt – siehe dazu auch meine Blogeinträge vom letzten Jahr. Das neue Staatsoberhaupt, das sein Amt am 28. Juli – dem peruanischen Nationalfeiertag – antreten wird, ist das vierte innerhalb von neun Monaten.
Beim ersten Wahlgang der regulären Neuwahlen vom 11. April, an dem insgesamt 18 Kandidatinnen und Kandidaten teilnahmen, erreichten Pedro Castillo und Keiko Fujimori die meisten Stimmen, so dass sie nun in einer Stichwahl gegeneinander antreten. Für viele Peruanerinnen und Peruaner handelt es sich dabei um eine Entscheidung fürs kleinere Übel: Keiko Fujimori ist für viele a priori unwählbar, nicht nur weil sie eine rechtsgerichtete konservative Weltsicht vertritt, sondern vor allem deshalb, weil sie die Tochter des Ex-Diktators Alberto Fujimori ist.
Alberto Fujimori, Sohn japanischer Einwanderer, hat das Land von 1990 bis 2000 mit harter Hand regiert und sitzt zurzeit eine 25-jährige Haftstrafe wegen Menschenrechtsverletzungen ab. Wie bei den Protesten letztes Jahr deutlich wurde, haben diese Erlebnisse bei vielen Menschen Spuren und Wunden hinterlassen – siehe dazu auch meine Videobeiträge von November. Keiko Fujimori, die an die vermeintlichen Errungenschaften ihres Vaters anknüpfen will, ist vor allem für die indigene Bevölkerung ein rotes Tuch. Dies hängt auch mit den Erinnerungen an den bewaffneten Konflikt von 1980 bis 2000 zusammen: Drei Viertel der 70’000 Toten waren Quechuas.
So heisst einer der Slogans, der seit Wochen in den Sozialen Medien die Runde macht: «Fujimorismus – nie wieder!», und die landesweite Demonstration, zu der am Dienstag Abend aufgerufen wurde, fand – nicht zum ersten Mal – unter dem Motto «Keiko no va!» («Keiko wird’s nicht!») statt. In Lima gingen tausende von Menschen auf die Strasse, und die Mischung hätte nicht bunter sein oder die grosse Diversität der peruanischen Gesellschaft besser repräsentieren können: Unter den Teilnehmenden befanden sich Kinder, Grosseltern, Menschen auf Motorrädern oder Velos und in Rollstühlen, feministische Kollektive mit der LGBT-Flagge, Musikgruppen mit Trommeln und Trompeten, Vertreterinnen und Vertreter von indigenen Organisationen mit der Wiphala, Panflöten und Pollera-Röcken genauso wie NGOs und soziale Organisationen mit hunderten verschiedener Flaggen und Transparente. Eine spontane Live-Übertragung auf meiner Facebook-Seite wurde mehr als 450 Mal geteilt und fast 3000 Mal angesehen – wer sich einen Eindruck verschaffen möchte, kann dies hier tun.
Es waren zwar auch Transparente zu sehen und Slogans zu hören, die die Kandidatur von Pedro Castillo direkt unterstützen, doch die grosse Mehrheit der Slogans lautete: NEIN zu Keiko. Tatsächlich fallen die bewussten «Gegenstimmen» auf beiden Seiten ins Gewicht: Laut einer Umfrage des Instituts für Peruanische Studien (Instituto de Estudios Peruanos IEP) geben 11 Prozent derjenigen, die für Castillo stimmen wollen, als Hauptgrund für ihre Entscheidung an, dass sie die Präsidentschaft von Fujimori verhindern wollen, und 6 Prozent weil er das kleinere Übel sei. Auf der anderen Seite stimmen 21 Prozent der Fujimori-Wählerinnen und -Wähler für «ihre» Kandidatin, weil sie nicht wollen, dass Castillo an die Macht kommt, und 12 Prozent halten sie für das kleinere Übel.
Pedro Castillo ist tatsächlich eine etwas zwiespältige Figur. Er gilt zwar als Linker, hat aber auch als dezidierter Abtreibungsgegner sowie durch frauenfeindliche und homophobe Aussagen von sich reden gemacht. Castillo ist Lehrer und eine indigene Autorität, weshalb er viel Unterstützung aus dem andinen Raum bekommt. Gemäss der letzten Umfrage führt er mit knappen 51.3 Prozent, wobei Keiko Fujimori in den letzten Wochen immer mehr aufgeholt hat. Der Tonfall wird derweil immer schärfer, und sowohl in den Sozialen Netzwerken als auch in vielen Medien wird mit Schlagworten operiert, die nicht nur an der Realität vorbeigehen, sondern auch bedauerlich diskriminierend und rassistisch sind – und zwar von beiden Seiten. Castillo wird fast automatisch mit dem Kommunismus in Verbindung gebracht – dies passiert in vielen lateinamerikanischen Ländern schnell und ziemlich undifferenziert, wenn jemand im linken Spektrum eingeordnet wird. Überall hört und liest man, dass mit Castillo als Präsident alle enteignet würden, viele den Job verlieren und die Wirtschaft zu Grunde gerichtet würde. Dies hat damit zu tun, dass er den Bergbausektor verstaatlichen will, um zu verhindern, dass sich weiterhin ausländische Konzerne an den Reichtümern Perus bereichern. Ausserdem möchte er 10 Prozent des Staatsbudgets für Bildung und Gesundheit einsetzen.
Auf der anderen Seite sprechen die Gegnerinnen und Gegner von Keiko Fujimori durchs Band von der «chinesischen Ratte», die sich als Ausländerin in Peru nicht einzumischen habe. Es tauchen am Laufmeter Memes oder Transparente auf, die sie als Ratte zeigen. Insgesamt erschweren diese gegenseitigen Anfeindungen – auch direkt zwischen Castillo und Fujimori – eine Debatte über sachpolitische Fragen bzw. den Inhalt der beiden Wahlprogramme. Allerdings geben diese auf weniger her als erhofft: Zum Thema Umwelt zum Beispiel hat sich in den Vorwahl-Debatten keiner der beiden Kandidaten befriedigend oder konkret geäussert. Es ist zu befürchten, dass so oder so die extraktivistische Politik weitergeführt würde, die auf Grund der Schäden an Umwelt und Gesundheit bereits heute zu grossen sozialen Konflikten führt. Fujimori setzt, um an mehr Stimmen zu kommen, vor allem auch auf finanzielle Versprechen. In der letzten Vorwahldebatte im Fernsehen kündigte sie Boni für alle denkbaren Sektoren der Gesellschaft an – unter anderem auch 10’000 Soles (2350 Franken) für jede Familie, die jemanden wegen Covid verloren hat. «Auf Grund der Unfähigkeit der vergangenen Regierungen, die Pandemie zu bewältigen», fügte sie an.
Es wird also spannend am Sonntag – bleibt zu hoffen, dass die Lage im Land, egal wie das Wahlergebnis ausfällt, ruhig bleibt.

[…] daran, dass sie Präsidentin werden könnte, bekomme ich Angstzustände.» Wie ich bereits im Eintrag vom 3. Juni erwähnt habe, kommt ein nicht unbeachtlicher Teil der Stimmen auf beiden Seiten dadurch zu Stande, […]
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