Fast drei Monate ist es her, dass Pedro Castillo zum neuen Staatspräsidenten von Peru gewählt wurde. Das Amt angetreten haben er und das ebenfalls neu gewählte Parlament am 28. Juli, dem Tag der 200-Jahre-Feier der «Unabhängigkeit». 1821 wurde das Land nach dem Sieg über die spanischen Truppen für unabhängig und die Kolonialherrschaft für beendet erklärt.
Die Realität sieht jedoch anders aus. Bis zum heutigen Tag gilt die indigene Bevölkerung in Peru – genauso wie in den meisten Nachbarländern – für eine Gesellschaft zweiter Klasse. Dies zeigt sich nicht nur in der rassistischen Haltung vieler «weisser» Peruanerinnen und Peruaner, die alles Indigene für rückständig und minderwertig halten. Auch strukturell werden die Angehörigen der 55 offiziell anerkannten indigenen Bevölkerungsgruppen diskriminiert. Dies zeigt sich nur schon daran, wie mit der Sprachvielfalt umgegangen wird.
Insgesamt sind in Lateinamerika laut UNICEF mehr als ein Fünftel der 557 indigenen Sprachen vom Aussterben bedroht. In Peru sind indigene Sprachen wie Aymara und Quechua zwar laut Artikel 48 der Verfassung als offizielle Landessprachen anerkannt – jedoch mit dem Zusatz «in den Regionen, in denen sie vorherrschen». In der Praxis wird aber, wer nicht fliessend Spanisch spricht, nicht nur verspottet und als ungebildet betrachtet, sondern hat auch grosse Mühe, Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem zu finden oder seine politischen Rechte in Anspruch zu nehmen.
«Das staatliche Erziehungssystem ist zu einem zweischneidigen Schwert geworden, indem es die Interessen der andinen indigenen Gemeinschaften und ihrer Kultur verschwinden lässt», schreibt der Aymara-Theologe und Sprachwissenschaftler Domingo Llanque Chana aus Puno. «Die Methodik und die Lehrpläne sowie die Sprache in den Schulen ist der Realität der Indigenen fremd und verfolgt das Ziel der Assimilierung an die westliche kapitalistische Kultur. Auf diese Weise hat sich das staatliche Erziehungssystem in ein antipädagogisches Instrument der dominanten Kultur verwandelt, die den Wert der andinen Kultur verneint. Man will die Bevölkerung homogenisieren und zwingt den indigenen Kindern Spanisch auf. Man gibt ihnen von Anfang an das Gefühl, dass es eine Schande ist, wenn sie kein Spanisch können, und dass sie es so schnell wie möglich lernen müssen, um diese schwerwiegende Wissenslücke auszugleichen.»
Wie dies in der Praxis aussehen kann, wurde vorgestern wurde bei einer Debatte im peruanischen Parlament deutlich, als der Präsident des Ministerrates, Guido Bellido, seinen Diskurs nicht wie üblich auf Spanisch, sondern in den indigenen Sprachen Quechua und Aymara begann. Schon nach kurzem wurde er von Parlamentspräsidentin Maria del Carmen Alva unterbrochen, die ihn bat, auf spanisch weiterzusprechen, da sie und viele andere ihn nicht verstünden (> Video auf Quechua/Spanisch). Ein Grossteil des Parlaments unterstützte diese Forderung mit lauten Protestrufen und sogar mit Auspfeifen. Dies löste eine Kontroverse darüber aus, wie der oben zitierte Artikel 48 der Verfassung in der Praxis auszulegen sei. Wenn Quechua tatsächlich als offizielle Sprache Perus gilt, müsste ihr Gebrauch im Parlament selbstverständlich erlaubt sein, und es müssten Dolmetscher bereitstehen.
Die Sozialen Netzwerke reagierten wie immer schnell, zum Beispiel mit diesem Kommentar: «Sprichst du Quechua? Nein? Wie hast du dich gefühlt, als du nichts verstanden hast? Jetzt stell dir vor, wie sich die Kinder in der Schule fühlen, die ihre Lehrer nicht verstehen, weil sie nur Spanisch sprechen. Wie wäre es, wenn sie ihre Lehrer dafür auspfeifen?»
Der Vorfall ist auch deshalb delikat, weil dabei eine Haltung reproduziert wurde, die an die Ankunft von Kolumbus im damaligen Inkareich erinnert. Bellinos Nachricht hinterlässt in diesem Zusammenhang Gänsehaut hoch zehn: «Ich grüsse euch zur 200-jährigen Unabhängigkeit. Wir haben 500 Jahre lang gelitten, sind langsam durch unsere verschneiten Berge gegangen, mit dem Ziel, eines Tages in dieses Parlament hier zu kommen. Möge unser Wort gehört werden. Ich bin im Namen meines Volkes hierher gekommen, das sich bemüht, mit jedem zu sprechen. Feinden wir uns nicht gegenseitig an, beleidigen wir uns nicht. Sprechen wir auf Spanisch, und auch auf Quechua.»
Der Fall erinnert mich schmerzhaft an den der kurdischen Politikerin Leyla Zana, die 1991 ins türkische Parlament gewählt wurde und nach dem Ablegen ihres Eides einen Zusatz auf Kurdisch hinzufügte: «Diesen Eid habe ich auf die türkisch-kurdische Freundschaft gesprochen.» Die Empörungswelle, die darauf folgte, war noch heftiger als die im peruanischen Parlament. (> Video mit englischen Untertiteln) Darauf wurde Zana vom Parlamentsvorsitzenden gezwungen, mit der Formel «Ich nehme mein Wort zurück» ihren Eid für nichtig zu erklären und ihn noch einmal zu sprechen – diesmal ohne den Zusatz. Später wurde die Immunität von Zana und sechs anderen kurdischen Parlamentarierinnen und Parlamentariern aufgehoben, und sie wurden aus dem Parlamentsgebäude heraus abgeführt und verhaftet. Die Anklage lautete: Hochverrat, Separatismus und Angriff auf die Integrität des Staates. Das Urteil: 15 Jahre Haft. Nach 10 Jahren wurde Leyla Zana auf Druck aus der EU freigelassen, 2008 jedoch wieder festgenommen und zu 10 weiteren Jahren verurteilt.
Diesen Beispielen könnte man noch viele weitere anfügen. Stellvertretend dürften sie aber verständlich machen, dass das Konzept von Nationalstaaten mit einheitlichen Sprachen, Ethnien und Kulturen als gescheitert betrachtet werden muss. Fast überall auf der Welt hat es nämlich dazu geführt, dass Bevölkerungsgruppen durch willkürliche bzw. durch militärische Siege erkämpfte Grenzen getrennt werden, während innerhalb der neuen Staaten Minderheiten entstehen. Dies trifft auf die Kurden genauso zu wie auf die Quechua und Aymara.
Die neue Regierung Perus – so fragwürdig einige ihrer Ansichten auch sein mögen – dürfte dafür sorgen, dass gewisse koloniale Denkmuster vom Sockel gestossen und die gesellschaftlichen Strukturen im Land kräftig aufgemischt werden. Etwas Ähnliches passierte in Bolivien 2006, als Evo Morales zum Präsidenten gewählt wurde. Auch wenn vieles, was danach passierte, mit Recht kritisiert wurde – zum Beispiel die Diskrepanz zwischen Diskurs und Realpolitik, gerade im Bezug auf Umweltschutz –, hat Morales dafür gesorgt, dass Quechuas und Aymaras im Hochland Boliviens zum ersten Mal in ihrem Leben durch die Strassen gingen, ohne den Blick gesenkt zu halten. Die indigene Bevölkerung von Südperu wünschte sich deshalb seit Jahren einen Präsidenten wie Evo. Jetzt ist die Chance da, alles anders und vieles besser zu machen als in den letzten 500 Jahren – hoffen wir, dass sie auf konstruktive Weise genutzt wird.