Den letzten Rundbrief dieses Jahres beginne ich mit einer Liebeserklärung: Bolivien ist eines der vielfältigsten Länder, das ich kenne. Es erstreckt sich von den Anden bis ins Amazonasbecken, von 6500 bis hinab auf 70 Meter über Meer. El Alto liegt auf über 4000, Santa Cruz auf 400 Meter über Meer – es sind zwei vollkommen unterschiedliche Welten, von den «auf halber Höhe» gelegenen Städten wie Cochabamba oder Sucre mal ganz abgesehen. Das Hochland zeichnet sich durch seine weiten, kargen Landschaften aus, mit von der Sonne gelb gebranntem, trockenem Gras. Wenn man von La Paz Richtung Peru fährt, sieht man stundenlang keinen einzigen Baum, und zwischen den Dörfern, die die Landstrasse säumen, liegen weite Strecken. Es sind Ansammlungen von kleinen, roten Backsteinhäusern, umgeben von Äckern und Alpakas, und man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass Mensch und Tier hier harten klimatischen Bedingungen trotzen. Die Temparaturen im Hochland liegen zwischen 0 und 20 Grad, wobei die Sonne tagsüber das ganze Jahr über so stark ist, dass man sich als bleichgesichtige_r Europäer_in schon nach 10 Minuten verbrennt. Man ist dem Himmelsfeuer eben ein ganzes Stück näher als auf allen Schweizer Bergen, die die Durchschnittsbürgerin im Normalfall so begeht oder beskifährt. Tritt man von der Sonne in den Schatten, schlägt einem dagegen sofort von allen Seiten eine Kälte entgegen, die genau so brennend ist wie die Höhensonne. Nachts wird es auch im Sommer so kalt, dass man am besten mit Schal und Mütze schläft.

Santa Cruz und die Departamente des Tieflands dagegen sind tropisch-feucht und sowohl klimatisch als auch landschaftlich das pure Gegenteil des Hochlands. Die Städte und Dörfer sind von Regenwald umgeben, in denen zig Abstufungen kräftigsten Grüns zu explodieren scheinen – feucht, verschlungen und die Heimat unzähliger Tier- und Pflanzenarten. In den diversen Nationalparks und Naturschutzgebieten findet sich eine der grösste Biodiversitäten der Welt, von Papageien, Tukanen und anderen tropischen Vögeln über Jaguare, Pumas, Wildschweine, Gürteltiere und Wild bis zu Armeen von Insekten, Spinnen und Tausendfüsslern. Lange mäandrierende Flüsse fliessen durch diesen teilweise unerschlossenen Dschungel, und es gibt Gebiete, in denen die Dörfer nur per Boot erreichbar sind. An verschiedenen Stellen tauchen immer mal wieder Hinweise darauf auf, dass irgendwo in diesen Wäldern so genannte nicht kontaktierte Völker leben – kleinere oder grössere Gruppen, die den Kontakt mit der so genannten Zivilisation bewusst meiden und ein vollkommen in die Natur eingebundenes Leben führen. Die Dschungel des bolivianischen Tieflands sind voller Geheimnisse und uraltem Wissen, wobei sich die Städte immer weiter ausbreiten und dem Wald und seinen Bewohner_innen im wahrsten Sinne des Wortes den Boden unter den Füssen wegziehen.
Eine der vielen Konsequenzen davon ist, dass am Stadtrand von Santa Cruz ein Jaguar lebt. Man sagt, er dringe in die Stadt ein, doch in Wirklichkeit dringen wir in seinen Wald ein. Er war zuerst da. Genauso wie verschiedene indigene Völker, die in den vor 50 Jahren noch unberührten Wäldern lebten, welche heute zum Territorium von Santa Cruz gehören und keine Wälder mehr sind, sondern Strassen, Häuser und Industrieanlagen.

Mit all dieser Vielfalt, die ich in den zwei letzten Jahren nur ansatzweise kennenlernen durfte, ist Bolivien für mich eines der wunderbarsten, reichsten Länder, das ich je gesehen habe. Bei allen sozialen und politischen Herausforderungen, die ich aus nächster Nähe mitkriege – was nicht immer einfach zu verarbeiten ist – ist die Natur sowohl im Hoch- als auch im Tiefland zu einem meiner wichtigsten Ankerpunkte geworden. Ich verstehe erst jetzt so richtig, warum man in Europa vom «gemässigten Klima» spricht – hier ist alles extrem. Sowohl die Kälte als auch die Hitze ist anstrengend, greift einen an, verlangsamt den Organismus, das Denken, jede Bewegung. Doch dabei spürt man, dass man in einer «Umwelt» lebt und nicht unter einer künstlichen Glocke – die Luft um einen herum ist nicht einfach Luft, keine Selbstverständlichkeit, die einem vor lauter Milde nicht einmal auffällt. Hier ist die Luft ein Brennen, ein eisiges Schneiden, eine feuchte, schwitzende Blase, ein Klirren, ein Rauschen und Zirpen. In der Steppe des Hochlandes ist man ausgesetzt: der Sonne, dem Auge des Kondors, der eigenen Beklemmung. Im Urwald kann man sich verbergen, auch vor sich selbst, vergessen, was einen umtreibt – doch sowohl in der kargen Weite als auch in der verschlungenen Tiefe kann man ganz unerwartet eine grosse Ruhe finden, in der man sich nicht nur als Teil dieses riesigen Kosmos begreift, sondern auch fühlt, dass er nicht voll lauernder Gefahren ist, sondern einen beschützt, ganz im Gegenteil zum Gewirr und Lärm der Städte, in denen man nicht lebt, sondern nur wohnt. Auch die Schweiz hat herrliche Berge und wunderbare Wälder – doch die bolivianische Weite hat eine andere Dimension: Während in der Schweiz im Schnitt 200 Einwohner auf den Quadratkilometer kommen, sind es in Bolivien gerade mal 10.
Kann alles nachvollziehen und im Herzen verstehen. Leider haben wir die Unschuld verloren (CH
und besonders USA), die Du so gekonnt beschreibst. Vielen Dank. Markus
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Vielen Dank lieber Markus. Sorry für die späte Antwort 😉
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