Der bolivianische Journalist Osman Patzi meinte kürzlich, er schäme sich langsam zu sagen, dass er Journalist sei. Es gebe keinen Grund mehr, stolz auf diesen Beruf zu sein bei all den Fake-News und angesichts der Tatsache, dass sich immer mehr Medien vor den Karren politischer Parteien spannen lassen. Heute wurde publik gemacht, dass der SPIEGEL-Reporter Claas Relotius, der in den letzten Jahren verschiedene Journalistenpreise eingesackt hat, seine Reportagen nach Belieben frisiert, sprich teilweise frei erfunden hat. Üble Sache. Doch das ist Journalismus à la 21. Jahrhundert: Die Leute wollen krasse Stories (und wollen sie glauben), und vielen Autor_innen geht es mehr um ihren Namen und um Auszeichnungen als um die Wahrheit oder gar um einen irgendwie gearteten Beitrag zu einer gerechteren Welt. Worüber wir wirklich diskutieren sollten: Wie können wir einen Journalismus betreiben, der die Menschen, über die wir schreiben, nicht ausstellt, nicht benutzt, und ihr Wissen honoriert statt ausbeutet? Denn mal ganz ehrlich: Was machen wir Journalist_innen eigentlich? Wir dokumentieren nur, was andere tun, denken und sagen. Die Auszeichnungen gehören denen, die wir dem Leser oder der Zuschauerin servieren. Vielfach wird jedoch Wissensextraktivismus betrieben: Forscher_innen und Journalist_innen gelangen – zum Beispiel – an indigene Gemeinden, um irgend etwas zu recherchieren und in eine Publikation zu verpacken. Die Publikation trägt den Namen der Forscher_in oder der Journalist_in und wird als ihr geistiges Eigentum betrachtet (das nicht ohne Angabe der Quelle zitiert werden darf). Das Wissen und die Arbeit, die in dieser Publikation steckt, wird in der Regel der Autor_in zugeschrieben. Doch eigentlich grast die Autor_in nur Wissen anderer ab, extrahiert es und erlangt damit einen Doktortitel oder eine Auszeichnung. Dabei besteht kein Unterschied zum Pharmakonzern, der das Wissen einer indigenen Gemeinde über Heilpflanzen extrahiert und auf der Grundlage dessen Medikamente entwickelt, die er patentieren lässt und damit ein Vermögen verdient.
Wenn sich Journalist_innen statt der Wahrheit der Erwartung verpflichten, gute Stories zu liefern – wie Claas Relotius zu seiner Verteidigung anfügte –, müssen wir eigentlich gar keine Reportagen mehr lesen oder schauen. Okay: Niemand kann garantieren, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu publizieren. Denn dass es eine absolute, objektive Wahrheit gibt, ist eine der grössten Illusionen der Menschheit. Es gibt so viele Wahrheiten wie Organismen im Kosmos. Die Wahrheit einer indigenen Gemeinde ist eine andere als die Wahrheit des Ölkonzerns, der in ihrem Territorium den Boden und das Wasser vergiftet. Und die Wahrheit des Bodens, des Wassers, der Amöbe, der Ameise und des Jaguars – wer publiziert sie? Die Wahl unserer Themen, unserer Interviewpartner_innen und unserer Perspektive ist radikal subjektiv. Es gibt keinen objektive Journalist_innen, weil es keine objektiven Menschen gibt. Ja, Journalist_innen sind auch Menschen. Haben eine Meinung, eine Haltung. Sonst wären sie wahrscheinlich keine Journalist_innen. Guter Journalismus ist für mich nicht neutral, sondern explizit parteiisch: Er setzt sich für etwas ein und deklariert das auch. Guter Journalismus jongliert nicht mit Namen – weder mit dem Namen seines Autors oder seiner Autorin noch mit denen der Expert_innen, die er zitiert. Guter Journalismus gibt auch Menschen eine Stimme, die keinen Titel, keine Visitenkarte und keine teure Uhr haben. Und zwar mit der gleichen Hochachtung, der gleichen Wertschätzung, dem gleichen Respekt vor ihrem Wissen, ihren Kenntnissen und ihrer Realität. Worüber wir diskutieren müssen: Wer zitierwürdig ist und warum. Damit entlarven wir uns selbst, die Gesellschaft und grundlegende Prämissen, derer wir uns nicht einmal bewusst sind. Natürlich heisst das nicht, dass wir bei der Auswahl unserer Quellen leichtgläubig vorgehen und uns dadurch manipulierbar oder instrumentalisierbar machen. Natürlich nicht. Natürlich müssen wir kritisch sein und die Aussagen unserer Interviewpartner_innen hinterfragen. Nur dürfen wir dabei keinen Unterschied zwischen einem Professor Doktor und einer Fischerin in der bolivianischen «Pampa» machen. Ich wünsche mir, dass der so genannte gesunde Menschenverstand rehabilitiert wird. Wenn die Fischerin nicht «wissenschaftlich» belegen kann, dass das Fischsterben eine Konsequenz der Wasserverschmutzung durch die staatliche Goldmine flussaufwärts ist, bedeutet dies noch lange nicht, dass ihre Wahrheit keine Wahrheit ist, keine grösseren Zusammenhänge aufzeigt oder ein so genanntes Einzelschicksal darstellt.
Wenn man über so genannte soziale Missstände berichtet, ist die Gefahr gross, Menschen als Opfer darzustellen. Die weltweite Ungerechtigkeit ist zwar eine Tatsache, die weder zu leugnen noch schönzureden ist, doch die Art und Weise der Berichterstattung macht den entscheidenden Unterschied. Ich wünsche mir einen Pressekodex, in dem die Verpflichtung zur Wahrung der Menschenwürde bedeutet, nicht von Armen zu sprechen, nicht von Unterdrückten, nicht von Notleidenden. Menschen sind nur Opfer, wenn wir sie auf die Ungerechtigkeiten reduzieren, die ihnen begegnen. Wenn wir ins Zentrum rücken, worunter sie leiden, deklarieren wir sie als hilfsbedürftig. Dies ist in vielen Medien und in den meisten Kampagnen von NGOs genauso wie von staatlichen oder internationalen Organisationen der Grundton, denn offenbar funktioniert so der Markt: Die Leute möchten Geschichten hören, die voll von Emotionen und Drama sind. Vielleicht hilft ihnen dies, sich selbst besser zu fühlen, anderseits gibt es ihnen die Möglichkeit, mit einer Spende oder einem empathischen Facebookpost ihr Gewissen zu erleichtern. Guter Journalismus, gute Kampagnenarbeit dagegen zeigt starke Menschen. Denn alle Menschen sind stark. Das Dorf, das vom Staudammprojekt überschwemmt wird und die Fischer_innen, denen die Mine den Fluss vergiftet, legen nicht die Hände in den Schoss und klagen. Sie entwickeln Strategien, um die Missstände zu bekämpfen, und arrangieren sich gleichzeitig auf die eine oder andere Weise mit ihnen. Natürlich kommt es fast nie vor, dass staatliche oder internationale Konzerne ihre Projekte aufgeben und auf die entsprechenden Gewinne verzichten, nur weil im Wald oder am Fluss ein paar hundert oder ein paar tausend Menschen ihre Lebensgrundlage verlieren. Aber auch wenn sie dies meist nicht verhindert können, folgt daraus noch lange nicht, dass sie Verlierer_innen sind und auch als solche dargestellt werden müssen. Normalerweise sind sie alles andere als Verlierer_innen. Sie sind Kämpfer_innen. Held_innen. Haben mehr Mut, Kraft, Vertrauen und Ausdauer als die Superheroes im grossen Kino. Und so müssen wir sie auch zeigen, wenn wir Wert auf Ethik im Journalismus legen.
Ich wünsche mir einen Journalistenpreis, der an die Menschen geht, über die wir schreiben. Ich wünsche mir Medien, die die Namen der Autor_innen nicht mehr abdrucken. Nicht damit wir uns verstecken. Sondern damit wir uns nicht mehr so wichtig nehmen. Denn unsere Beiträge sind nicht in erster Linie das Resultat unserer harten Arbeit, sondern das Resultat eines Schaffens-, Leidens- oder Erleuchtungsweg von jemand anderem. Ich wünsche mir, dass wir Journalist_innen die Hälfte unserer Arbeitszeit dafür aufwenden, über die Ethik, den Sinn und die Konsequenzen unserer Beiträge zu reflektieren. Das wünsche ich mir zu Weihnachten, für die nächsten 50 Jahre. Und dass ich selber so eine Journalistin werde, wie ich sie mir wünsche.
Amen! Starke Worte – feliz Navidad querida Nicole!
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Vielen Dank liebe Esther!! Dir auch feliz navidad 🙂
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Starker Text liebe Nicole!
Irgendwie ist er mir vor den ‚hochheiligen Tagen‘ durch die sprichwörtlichen Lappen gegangen.
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Vielen Dank!! Ist ja immer noch aktuell, leider…
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